Polverschiebung im Weltwirtschaftssystem

nd-Serie: Das Reich der Mitte - die neue Supermacht? (Teil 4 und Schluss)

  • Bernd Schneider
  • Lesedauer: 8 Min.
China entdeckt seine eigene Geschichte als »Reich der Mitte« im 21. Jahrhundert wieder: Während die westliche Welt unter der Finanzkrise leidet, entwickelt Peking deutlich spürbar außenpolitisches Machtbewusstsein. Zugleich muss das Land jedoch für eine Vielzahl von Problemen Lösungen finden. In einer nd-Serie schildern vier Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln ihre Sicht auf verschiedene Lebensbereiche Chinas. Mit dem heutigen Beitrag endet die Serie.
Bernd Schneider (45) ist Politikwissenschaftler und arbeitet seit 2004 für Abgeordnete der Linken im Europäischen Parlament. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Entwicklungspolitik und Handelspolitik. Derzeit ist Schneider Fachreferent für Internationale Handelspolitik des Europaabgeordneten Helmut Scholz. Scholz wiederum ist ständiger Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Handelsbeziehungen zwischen der EU und China.
Bernd Schneider (45) ist Politikwissenschaftler und arbeitet seit 2004 für Abgeordnete der Linken im Europäischen Parlament. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Entwicklungspolitik und Handelspolitik. Derzeit ist Schneider Fachreferent für Internationale Handelspolitik des Europaabgeordneten Helmut Scholz. Scholz wiederum ist ständiger Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Handelsbeziehungen zwischen der EU und China.

In schwierigen Zeiten gibt es einem ein Gefühl von Sicherheit, wenn man Reserven auf dem Konto hat. China hat sie, Brasilien auch, Europa und die USA haben sie nicht. Dass europäische Politiker gleichsam mit dem Klingelbeutel in der Hand in Peking vorstellig werden, nagt am Selbstwertgefühl und ruft in den Medien Sorgen um einen Ausverkauf hervor. Doch ist Angst vor der »gelben Gefahr« berechtigt? Ist chinesisches Kapital schlechter oder böser?

China hat den Weg seiner Umstellung auf die »sozialistische Marktwirtschaft« konsequent und erfolgreich beschritten. Mehr als 400 Millionen Menschen wurden aus tiefster Armut geführt. Dieser Erfolg wird international als Kon-trast zur indischen Entwicklung bewertet, wo neben den neuen Wohlhabenden weiterhin die Masse der Bevölkerung arm blieb.

Antichinesische Ressentiments sind dennoch in Europa dominant. Aufgaben und Leistungen des politischen Systems Chinas angesichts seiner Verantwortung für die Lebenssituation von mehr als 1,3 Milliarden Menschen spielen in Kommentaren selten eine Rolle.

Um dies zu ändern, setzt China auf Dialog. Auf Initiative der KPCh wurde das »EU-China High Level Forum« politischer Parteien und Fraktionen ins Leben gerufen. Vom 6. bis 9. November fand im Europäischen Parlament die zweite derartige Konferenz statt. Noch unlängst wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass führende europäische Parteipolitiker aller Fraktionen auf Augenhöhe mit Partnern aus der KP Chinas diskutieren. Nun stellte man sich die Aufgabe, Gemeinsamkeiten zwischen der EU 2020-Strategie und Chinas 12. Fünfjahrplan zu ergründen.

Enorme Chancen für Europas Wirtschaft

China wurde bisher in Europa vor allem als Konkurrent wahrgenommen. Das Tempo seiner Industrialisierung ist enorm. Gigantische Manufakturen wurden errichtet, die Waren zu Preisen auf den Weltmarkt bringen, mit denen europäische Hersteller nicht konkurrieren können. Viele gering qualifizierte Arbeitskräfte in Europa verloren dadurch ihren Job. Gleichzeitig wurden viele Konsumgüter für die meisten Europäer überhaupt erst erschwinglich.

Mit Sorge blicken Europäer nicht nur auf die individuellen Menschenrechte in China, sondern auch auf die Arbeits- und Umweltbedingungen der Produktion in China. Sie fürchten einen Druck, der zur Senkung der eigenen hohen Standards führt. Der aktuelle Fünfjahrplan Chinas greift allerdings die sozialen und ökologischen Probleme ausdrücklich auf und weist beispielsweise in Bezug auf die Förderung regenerativer Energien tatsächlich eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der EU-Strategie auf. Die Qualität ihrer »konsultativen Demokratie« und der Menschenrechte wollen die Chinesen dagegen vor allem am Mehrwert ihres Systems für die Bevölkerung gemessen sehen.

Dabei spricht das Niveau der Fünfjahrplanziele für den Doppelcharakter Chinas als Wirtschaftsmacht und Entwicklungsland. Tatsächlich sind der Nachholbedarf Chinas und die gelenkte Öffnung des chinesischen Marktes für europäische Unternehmen derzeit vielleicht die bedeutendste Exportchance. Die positiven Kennzahlen der deutschen Wirtschaft haben sehr viel mit den chinesischen Importen zu tun. Der Maschinenbau profitiert von Chinas Industrialisierung, das Wachstum der Automobilindustrie stützt sich zunehmend auf die steigende Konsumkraft Chinas.

Im September 2011 durchbrach die Zahl der Autos in China die 100-Millionen-Grenze. Allein im ersten Halbjahr 2011 wurden 467 000 Fahrzeuge importiert, Tendenz steigend. Toyota hat klar den größten Marktanteil, aber im Markt für gehobene Ansprüche mischen deutsche Hersteller kräftig mit. Mehr als 80 000 importierte BMW, über 60 000 Mercedes und fast 30 000 Audis im ersten Halbjahr 2011 sprechen für das rasante Wachstum einer chinesischen Käuferschicht. Volkswagen produziert in China an sieben Standorten und hat seinen Gewinn aus dem Chinageschäft verdreifacht. Der Konzern will in diesem Jahr dort erstmals mehr als zwei Millionen Fahrzeuge verkaufen.

2012 wird China voraussichtlich zum zweitwichtigsten Exportmarkt für Deutschland aufrücken. Für die Eurozone ist es bereits der zweitwichtigste Handelspartner und hat die USA überholt. Hinter den deutschen Pkw-Verkaufszahlen stehen auch zahlreiche Zulieferbetriebe aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Linke Kritik, die Deutschland vorwirft, seine Nachbarn quasi arm zu exportieren, übersieht oft den Grad der Verflechtung europäischer Produktion. Sie wird zudem wenig Echo bei Menschen finden, die die Exporte auch als Gütesiegel für ihre Arbeit wahrnehmen. Richtig und wichtig ist dagegen die Kritik am viel zu geringen Lohnzuwachs in Deutschland. Dass eine negative Lohnentwicklung die Vorbedingung für deutsche Exporterfolge sei, ist ein Märchen, das Unternehmer gern Gewerkschaftern erzählen. Dagegen spielen für den Export nach China Ansehen, Qualität, Innovationsgrad und Verlässlichkeit eine große Rolle - und gehören ordentlich entlohnt.

China steht vor gewaltigen Aufgaben. In seinen Städten leben derzeit mehr als 240 Millionen Wanderarbeiter. Die Armut auf dem Lande ist noch immer so groß, dass sie Menschen voller Hoffnung in die Städte treibt. Haben sie Arbeit in einer Fabrik gefunden, wird ihnen zwar oft auch ein Übernachtungsplatz geboten. In der Realität bedeutet das jedoch häufig, sich nach einem langen Arbeitstag einen kleinen Raum mit sechs bis acht weiteren Arbeitern teilen zu müssen.

Paradoxerweise gibt es gleichzeitig eine Immobilienblase: Millionen Wohnungen, für zahlungskräftigere Mieter errichtet, stehen leer. Zwar stieg das Lohnniveau in den Fabriken stetig, inzwischen beläuft es sich auf etwa das Dreifache des Lohnes in Bangladesch, aber um die Miete für eine der hochwertigen Wohnungen zu bezahlen, wird das Einkommen der meisten Arbeiterinnen und Arbeiter noch lange nicht reichen.

Chinas Führung reagiert darauf mit ehrgeizigen Bauvorhaben. 36 Millionen Wohneinheiten für den Niedriglohnbereich sollen im Rahmen des derzeitigen Fünfjahrplans errichtet oder renoviert werden, um 20 Prozent der Haushalte mit einem ordentlichen Dach über dem Kopf zu versorgen. Dazu soll der örtliche Mindestlohn jährlich um 13 Prozent steigen und schließlich 40 Prozent des jeweiligen städtischen Durchschnittseinkommens übersteigen.

Zum Ausverkauf lädt Peking nicht ein

Die Verbesserung der Versorgung, die Verringerung der Armut, die Reduzierung der Schadstoffemissionen, die Entwicklung der Infrastruktur, die Förderung von Bildung und Forschung und insbesondere die Steigerung der Binnennachfrage sind Kernelemente der chinesischen Planung. Wirtschaftsexperten der KP Chinas sind der Ansicht, dass sich die Phase der nachholenden Industrialisierung ihrem Ende zuneigt. Künftig geht es um die Erneuerung der Industrieanlagen unter Umweltgesichtspunkten, den Aufbau eines florierenden Dienstleistungssektors und die Reduzierung des Exportanteils an der Wirtschaftsleistung zugunsten größerer Binnennachfrage.

Diese nächste Entwicklungsphase erfordert sehr großen Kapitaleinsatz, der für europäische Unternehmen höchst interessant ist. China öffnet seinen Markt jedoch nur unter der Bedingung, dass beide Seiten Vorteil daraus ziehen. Man bietet sich transnationalen Konzernen nicht zum Ausverkauf an. Ohne seinen großen Investitionsbedarf zu bestreiten, ist man sich seiner Attraktivität als potenziell größter Markt der Welt sehr bewusst. Wer auf diesem Markt als Investor Profite erzielen will, muss also etwas einbringen. Gefragt sind vor allem Know-how, Organisation und Technologie.

Insbesondere der Transfer von Umwelttechnologie ist objektiv im Interesse der Weltbevölkerung. Die Industrialisierung und die Verbesserung der Lebensbedingungen eines Sechstels der Weltbevölkerung verursachen einen enormen Energiebedarf. Dessen rasche Befriedigung durch den Bau von Kohlekraftwerken mit alter Technologie vergrößert die Gefahr der Klimakatastrophe. China hat auch 83 Milliarden Euro in erneuerbare Energien investiert, ist jedoch nicht bereit, Industrialisierung oder Mobilitätszuwachs um des Klimas willen zu stoppen. Klingt eigentlich nach einer Win-win-Option für Europa mit seiner Umwelttechnologie und seinen Energiealternativen. Auch Elektromobilität im Individualverkehr wird in Chinas mehr als 170 Millionenstädten zentrale Bedeutung erlangen. Was hemmt, ist die Angst vor Patentdiebstahl und das klassische Konkurrenzdenken.

Die Bedeutung von Patentschutz hat die chinesische Regierung erkannt, Maßnahmen sind angekündigt. Da immer mehr neue Patente in China selbst entwickelt werden, liegt dies im eigenen Interesse. Die Erkenntnis, dass hartes Konkurrenzdenken letztlich keine Zukunftsoption ist, reift dagegen unter europäischen wie unter chinesischen Unternehmern und Politikern nur langsam.

Vernetzung statt Gegnerschaft

Koexistenz bedingt jedoch, dass das Paradigma der Konkurrenz abgelöst wird vom Paradigma der wechselseitigen Vernetzung ökonomischer Aktivität. Wenn in Peking die Erkenntnis wächst, dass China seinem Absatzmarkt Europa auch aus Eigeninteresse finanziell aus der Klemme helfen sollte, muss umgekehrt der wirtschaftliche Erfolg Chinas in Europa als Chance zur Überwindung der eigenen Absatzkrise erkannt werden. Das wäre eine kluge Alternative zur Dummheit Washingtons, Peking durch eine neue Militärbasis im nordaustralischen Darwin und durch die unter Ausschluss Chinas vorangetriebene Ausweitung des Transpazifischen Partnerschaftsabkommens in die Rolle eines Gegners zu zwingen.

Europäer und Amerikaner verstanden den propagierten Begriff integrierter Märkte bisher in Wahrheit als Einbahnstraße. Politiker wie EU-Handelskommissar Karel De Gucht oder Rainer Brüderle sehen ihre Aufgabe in der »Penetrierung« von Märkten im Interesse ihrer Einflüsterer aus den Konzernen. Diese Politik baut nicht Handelspartner auf, sondern saugt sie aus. So wird Armut dauerhaft gemacht. Bei Begegnungen mit Vertretern Chinas oder Brasiliens blicken sie noch immer mit der Arroganz der »Entwickelten« auf die »Unterentwickelten« herab. Es fällt ihnen schwer, deren neues Selbstbewusstsein zu akzeptieren. Noch schwerer scheint ihnen die Erkenntnis zu fallen, dass die Wirtschaftsbeziehungen mit Brasilien, Indien, China, Russland und Südafrika für andere Teile der Welt eine Option zur Reduzierung der Abhängigkeit von Europa und den USA bedeuten. Da findet eine Polverschiebung im Weltwirtschaftssystem statt.

In den vergangenen drei Ausgaben von »wochen nd« erschienen:

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