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Dinner for One

Rainer Klis erzählt die Geschichte einer guten Absicht, die in systematischer Überfütterung endet

  • Lesedauer: 4 Min.

Seit er nicht mehr im Schuldienst war und das Alter ihm in die Knochen fuhr, ging ihm vieles auf den Docht, selbst Firmierungen wie Sina's Food Boutique, wenn er in einem solchen Laden seine Salzheringe kaufen musste. Einmal hatte er es nicht lassen können, sich bei Sina zu erkundigen, ob er gegen Rabatt ihr Schild über der Tür orthografisch korrigieren und am besten auch ins Deutsche übersetzen solle. Das Mädel hatte nicht mal aufgeblickt von seiner Kasse.

Topf für Topf goss er die Kartoffeln ab und begann Zwiebeln zu schneiden. Im Radio dröhnte es Fröhlich soll mein Herze springen, doch er war zu faul, noch mal aufzustehen. Es ging auf Mittag, und er musste sich ranhalten, wenn er vorm Abend fertig werden wollte. Er war der Übriggebliebene, der Heringssalat mit Kartoffeln noch zubereiten konnte. Seine Erste war drauf versessen, seine Zweite und ihr neuer Geschiedener auch. Er fand das längst nicht mehr normal. Dachten sie an eine Art Beschäftigungstherapie, weil er Heiligabend so allein rumsaß?

Dem familiären Gedächtnis nach ging das Rezept auf einen norwegischen Fischer zurück, dessen Stammbaum bis zu Leif Eriksson reichte, der in Vinland gar nicht erst mit den Skraelingern nach Kartoffeln gegraben hatte, sondern einfach nur Hering fraß.

Er schnippelte die Kartoffeln in Scheiben, filetierte Salzheringe, würfelte Zwiebeln, wiegte den Rogen. Seit er allein lebte, hatte er das Festessen pünktlich zum 24. ausgefahren: zur Ur-Ex, zum geschiedenen Mann der Ex, zur Ex. Es war der Salat, der sie alle Jahre zusammenführte. Die Erste revanchierte sich mit Buttergebäck aus der Landfrauenküche, der Ex der Ex strickte ihm schwarze Socken, bei Gisela gab's die Zigarette vorm Haus: »Bekommt die Schlampe diesmal wieder was ab?«

Seine Erinnerungen an Schlampen waren so umsortiert worden, dass sie ihm schon hätte sagen müssen, um welche es ihr ging. Immerhin war er klug genug, nicht nachzufragen.

Schlimm, was an Schnee diesmal runterkam; jede Unwetterwarnung übertraf die alte. Am Abend kreisten Helikopter über der A 4, am ersten Feiertag zog sich in der Mitte seiner Straße eine Loipe lang. Er rief die Ur-Ex an, den Ex der Ex, die Ex. Alle verboten ihm auszurücken. Was nun? Kein Mensch schund sich acht Stunden so ab, ohne dabei seelisch Schaden zu nehmen. Da könnte man sich ebenso gut nach Tasmanien deportieren lassen, Holzklasse, nonstop, non-smoking.

Er steckte sich die Feiertagshavanna an. Nicht nur, dass er jetzt vor drei Eimern Heringssalat saß, er hatte auch sonst angeschafft wie für'n Zoo. Hatte sich sogar Alaskalachs geleistet, hundertfünfzig Gramm, vor Kodiak mit der Hand gefangen. Es hätte einer Tankerladung Bootsflüchtlinge bedurft, um der Vorratshaltung Sinn zu geben.

Den Feiertagen folgte ein Wochenende, am Salat würde er noch Tage zu löffeln haben. Er verwarf den Gedanken, dass der Salat von ihm unbemerkt kippen könnte. Schließlich genoss er ihn ja portionsweise; er schmeckte besser als im Jahr zuvor. Das Ende kam abrupt, zwang ihn nieder auf die Fliesen; auch ohne Brille erkannte er die Haarrisse in der Schüssel und schwor ab: ein Mensch auf Knien eben. Es brauchte Kannen gesalzenen Ostfriesentees, um einen Löffel Leinsamen drin zu behalten, eine volle Packung Zwieback, damit ihm der Alaskalachs im Kühlschrank wieder einfallen konnte. Immer wieder hatte er die Delikatesse aufbewahrt, am Schluss übers Verfallsdatum hinweg für den Silvesterabend.

Im Jahresrückblick kamen Wiederholungen der imposantesten Naturkatastrophen. Er stellte den Fernseher laut, kehrte zurück in die Küche. Auf der Verpackung stand alles, was man über einen Pazifiklachs wissen sollte: welcher der fünf Arten der Gattung Oncorhynchus er angehört hatte und wie er umgekommen war. Er zog die Ummantelung auf, trug das goldfarbene Tablettchen unter die Küchenlampe. Die Packung enthielt sechs Scheiben, getrennt durch Folien. Behutsam hob er mit der Messerspitze die Hälfte ab. Es roch eigentlich nicht schlecht. Im Fernsehen begann Bond, James Bond.


Heringssalat »Dinner for Two«

500 g Kartoffeln, 200 g gewässerte Salzheringsfilets, 30 g Heringsmilch, 70 g Heringsrogen (beides gewässert, zerdrückt bzw. püriert), 80 g Fleischsalat od. Majo, 1 Essl. Öl, 1 Zwiebel, 1 Apfel, Kapern, paar Spritzer Essig, Senf nach Geschmack.

Pellkartoffel-Scheiben mit gewürfelter Zwiebel versetzen, überbrühen (wenig Wasser), Öl dazu. Restl. Zutaten untermischen, gewürfelte Filets zuletzt. Einen Tag ziehen lassen.

Rezept: Karin K. ? Lisbeth Th. ? Gunnhild P. ? Ole Einar H. ... ? Freydis Eriksdóttir



Rainer Klis, Jg. 1955, ist Schriftsteller, er lebt in Hohenstein-Ernstthal.

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