Leisetreter und Wutbürger

Die CDU endlich mal außer Wettbewerb: »Herr Wichmann aus der dritten Reihe« / Andreas Dresens zweiter Film über einen Brandenburger Abgeordneten: Sorgen mit dem Bummelzug +++ Das Maß eines redlichen Christdemokraten

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 4 Min.
Die 62. Internationalen Filmfestspiele bestimmen seit gestern das kulturelle Flair Berlins. Der Wettbewerb begann, für zahlreiche Sektionen öffneten sich die Vorhänge. Insgesamt werden über 400 Filme zu sehen sein. »Herr Wichmann aus der dritten Reihe« von Andreas Dresen läuft außer Konkurrenz.

Henryk Wichmann ist Abgeordneter im Brandenburger Landtag. Und nebenbei eine Art Filmstar: Regisseur Andreas Dresen war ihm einst wochenlang mit der Kamera im Wahlkampf gefolgt. Das daraus entstandene Porträt, »Herr Wichmann von der CDU« (2003), hatte ihn noch als Lehrling in Dingen der Politik gezeigt: sympathisch unbeholfen, sogar ein bisschen naiv, voller Urvertrauen in die Mechanismen der Demokratie.

Ein uckermärkischer Simplicissimus auf den steinernen Pfaden des Alltags, doch ohne seine Ideale von Nächstenliebe und Gottvertrauen auf dem Altar des politischen Marathons zu opfern. Jetzt hat ihn Dresen erneut vor die Kamera gebeten, ein Jahr lang, dreißig ausgewählte Tage.

»Herr Wichmann aus der dritten Reihe« kommt in einer Zeit, in der Politik von vielen als etwas Undurchschaubares, Bedrohliches wahrgenommen wird; der Begriff Euro-Rettung mag dafür als Stichwort genügen. Dresen hingegen führt Politik wieder aufs menschliche Maß zurück, sein Held ist ein engagierter junger Mann, der sich nicht gleich für ganz Europa zuständig fühlt, sondern für das Miteinander in seinem Wahlkreis.

Aus mehr als hundert Stunden Material filterte Dresen vor allem drei Konfliktfelder, auf denen sich Wichmann beweisen muss: einen umstrittenen Radweg durch ein Naturschutzgebiet, einen Kanal zwischen zwei Seen - und einen Bummelzug, der seine Türen auf einem bestimmten Bahnhof einfach nicht öffnen will, weil ferne Bürokraten das irgendwann mal so entschieden haben.

Wichmann sorgt sich um vernünftige Lösungen, er hört zu, lässt Verbindungen spielen, engagiert sich mit einer Engelsgeduld, ohne je sarkastisch oder zynisch zu werden. Dresen: »Das ließ mir die üblichen alltäglichen Schimpfereien über Politik in einem durchaus anderen Licht erscheinen.«

Henryk Wichmann ist Mitglied der CDU, in seinem Bürgerbüro in eher säkularer Gegend hat erselbstbewusst ein Kruzifix angebracht. Es gelingt Dresen, den Film völlig frei zu halten von parteipolitischer Propaganda. Viel mehr kam es ihm darauf an, einen »grundsätzlich offenen, liberalen Abgeordneten« zu zeigen, »der bereit ist, auf andere zuzugehen«.

Bisweilen schwingt im Film ein leicht ironischer Ton mit: So trägt Wichmann im Landtag ein Ansteckmikrofon, das seine bisweilen wenig schmeichelhaften Kommentare über Kollegen anderer Fraktionen deutlich hörbar macht. Wichmann, dem jeweils 48 Stunden nach einem Dreh die Gelegenheit eingeräumt wurde, eine Szene sperren zu lassen, scherte sich nicht darum. Andreas Dresen: »Ich hatte sogar das Gefühl, dass die Anwesenheit der Kamera seine Bereitschaft zu Zwischenrufen eher noch fördert.«

Das Plenum eines Parlaments ist wie eine große Bühne, alle machen ihr Theater, auch Henryk entzieht sich dem nicht. Der Film belegt, dass viele politische Absprachen weniger in diesem Theater, auf dieser Sprech-Bühne als vielmehr in den Treppenhäusern oder in der Caféteria erfolgen: Unter vier Augen versuchen Mitglieder aller Fraktionen, Sachprobleme zu lösen. Im Grunde ahnt der Zuschauer, dass das so laufen muss - und ist doch dankbar, es von einer äußerst dezenten Kamera (Andreas Höfer, Michael Hammon, Andreas Dresen) bestätigt zu bekommen.

Manchmal beschreibt der Film, wie nervös und müde man im tagtäglichen Politikgeschäft wird. Passen Sie auf sich auf, sagt eine ältere Dame: Die Schleier um Wichmanns Augen kommen ja nicht von ungefähr, der Verschleiß ist offensichtlich. Da wird Dresens Porträt auch ein wenig traurig.

Manchmal, vielleicht zu selten, wirkt der Film aber auch wie eine Realsatire. Wichmann als Gast einer Parade, ein militärisches Ritual mit Marschtritt und Musik bei immer heftiger strömendem Regen. Klatschnasse Uniformen, keine Rücksicht auf höhere Vernunft. Solche Momente lassen sich nicht planen, Andreas Dresen sieht sie als Geschenk des Zufalls an. Im Falle der Regenparade »hatten wir zunächst sogar das Gefühl, das werden wir gar nicht brauchen. Doch beim Schnitt erschien uns dieser absurde Vorgang, mitsamt des Absingens der Hymne, wie die Summe dessen, was wir im Film gezeigt hatten: Menschen im Dschungel der Rituale, eine Welt gefangen in den selbst gestrickten Gesetzen, Verordnungen und Verabredungen, aus denen sie sich kaum mehr befreien kann.«

Was übrigens nicht nur auf Politiker zutrifft, sondern auch auf deren Wählern: ganz gleich ob Leisetreter oder Wutbürger.

»Herr Wichmann aus der dritten Reihe«:12. Februar 17 Uhr im International, 13. Februar 14.30 Uhr im CineStar 7, 14. Februar 15.30 Uhr im Colosseum, 19. Februar 20 Uhr im CineStar

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