Maultiere

Heute wird Alexander Kluge 80

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

In einem fantastieplatzenden Jonglieren mit der gesamten Geschichte, mit Raum und Zeit sowie mit allen möglichen Entfernungen zwischen U-Booten und Raumstationen, Mesopotamiern und Facebook-Sklaven entsteht bei dem Erzähler Alexander Kluge die verkehrte Welt: Welt wird in ihr Gegenteil verkehrt - aus dem, was ist, wird in seinen Geschichten das, was möglich gewesen wäre. Und möglich bleibt, wenn wir nur weiter verquer genug denken.

Die Fantasie nistet sich an jenen Stellen ein, wo sich große und geringe Vorgänge durchmischen. Wo einander Fremdes und getrennt sich Vollziehendes plötzlich einen merkwürdigen Zusammenhang bildet. Dafür mag, aus einem seiner Bücher, die Geschichte vom Ehepaar stehen, das sich scheiden lassen will, auf seiner Autofahrt zum Gerichtstermin aber durch einen Waldbrand aufgehalten wird, wieder ins Gespräch kommt, die Scheidung verwirft.

Das ist sie, die Kluge-Art, im Zufall Fügung zu entdecken, im drohend Gesetzmäßigen Abzweigungen aufzuspüren. Übertragbar auf alle Liebesgeschichten und - Weltkriege.

Kluges Geschichten sind erfundene Stories darüber, was so wundersam wahr ist: Eine große menschliche Haupteigenschaft besteht in der unversieglichen Fähigkeit, aus Versehen etwas Gutes zu schaffen. So stürzt sich eine vom Westen enttäuschte Ukrainerin in Mailand vom Dom - und fällt auf ein Auto, dessen miserables Blech ihr dämpfend das Leben rettet. Ihr bitterster Entschluss führt so, über ein kapitalistisches Billigprodukt, direkt in die Boulevardzeitung, was wiederum einen Mann ihre Bekanntschaft suchen und beide die große Liebe finden lässt.

Der Schriftsteller iist ein Entfesselungskünstler: Er entfesselt vom Glauben, es gäbe Gesetze der Geschichte. Er erzählt davon, dass auch der Klassenkampf ein »naturwüchsiger« Prozess ist, den keine Avantgarde bewusst planen und leiten kann. Weil die gesellschaftliche wie die natürliche Evolution kein überlegenes Subjekt kennen und daher alles unvorhersehbar bleibt. Die Krise sämtlicher positiver Utopien hat eben hierin ihren Grund. Geschichte, ein immerwährend instabiler Zustand.

Dieser Fabuliernarr fordert dazu auf, den Historikern die Geschichte aus den Händen zu reißen und sie den Gebrüdern Grimm zu übergeben, den Sammlern, den Flohmarktstrategen, den Träumern, die Raum und Zeit mühelos durchschreiten. Das Sinnprägende menschlicher Geschichte ist ihm die Katastrophe: »Alle Verhältnisse werden im Augenblick ihrer Erschütterung für einen Moment durchsichtig daraufhin, das sie falsch zusammengesetzt sind.« Denken wir an den Herbst 1989, und wir wissen, was Kluge meint. Anderen mussten für diese Einsicht andere Türme einstürzen.

Seine Geschichten, in denen Galileo und Hitler so selbstverständlich vorkommen wie Bush und Nero, Karthago so selbstverständlich wie Tschernobyl - sie arbeiten gegen ein Zentralarchiv des vermeintlich Logischen und Faktischen. »Mit der Straßenkarte von London den Harz durchwandern. Das ist ergiebig insofern, als Sie sehr gut merken, wann Sie in den Abgrund fallen. Sie können mit einer falschen Karte viel erfahren. Wir können nie genau sagen, welche Karten richtig sind.«

Diese Erzählungen muss man wie einen Strand sehen, an dem wir Hühnergötter suchen: Das Unentdeckte führt sein Eigenleben ganz dicht neben uns. Ja, nicht im Hinterhalt, sondern im Nebenhalt. Denn der Hühnergott, den wir nicht finden, liegt ja genau unter jenem Tangbündel, das wir gerade nicht durchwühlen. Die Energie, die aus dem Traum von einer Berührung erwächst - vielleicht ist sie zauberhafter als alle Energie aus tatsächlichen Begegnungen.

Noch lieber als Archäologe (oder Maulwurf!) wäre Kluge wohl Marsmensch. Das erst ist der richtige Abstand, um den Termitenhaufen Erde in seinen synchronen Menschenbewegungen zu beobachten. Von weit oben spricht es sich auch am lebendigsten mit den Toten; dieses Gespräch darf nie abgebrochen werden.

Den Beruf des Autors verband Kluge mit dem des filmischen Operateurs, den des Praktikers mit dem des Theoretikers (Tretjakow sprach einst vom »operativen Schriftsteller«). Er hat die inzwischen viel gehassten technischen Apparate für die Dichtung gerettet - wer seine TV-Sendungen sieht, spätnachts, der erfährt als Zuschauer, dass Schlafstörung ein hochkulturelles Verhalten ist.

Dieser eher kleine Mensch mit der weich einflüsternden Stimme und dem beschwörend-fragenden »ja?« hinter jeden Satz - er ist ein Philosoph des Gefühls, aber jenseits von Romantik und Melancholie. Die Dialektik des Lebens, aus der er anspruchsvolle Denkrätselspiele entwickelt, findet sich in seinen Lieblingsversen, von Karl Kraus: »Und ist einmal die schlimme Zeit - lang wie ein Alb - gebrochen,/ dann wird davon gesprochen, /und einen Strohmann baun die Kinder auf der Heide/ zu brennen Lust aus Leide.«

Im Buch »Die Lücke, die der Teufel lässt« gibt es ein Foto: »Fünf Maultiere, vom Wasser des Missouri eingeschlossen, warten geduldig auf ihre Befreiung.« Das ist Kluges Bild für unsere ewig akute Situation. Sind auch wir Eingeschlossene? Wie weit ist es bis zum Ufer? Kommt Rettung? Wer kommt? Was wissen wir wirklich von der Gefahr, darin wir stecken? Kann man in einer Situation leben und zugleich etwas Entscheidendes über sie wissen? Was lehrt uns die Geduld der Maultiere?


Alexander Kluge, 1932 in Halberstadt geboren. Überlebt 1945 einen Bombenangriff (»10 m entfernt der Einschlag - die Minimalabweichung, die mein Leben bestimmte. Privat- und Menschheitsgeschichte ist eine Sache winziger Verschiebungen von Koordinaten«). Jurist, Historiker, Kirchenmusiker, Adorno-Schüler (Kritische Theorie!), Rechtsanwalt, Assistent von Fritz Lang, Mitschöpfer des »Oberhausener Manifests« der Autorenfilmer, Spielfilmregisseur (»Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos«, »Die Patriotin«), TV-Produzent (DCTP), Schriftsteller (Suhrkamp) Interviewer (Heiner Müller!).

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