Krisensitzung ohne den Chef

Hertha-Trainer Otto Rehhagel wirkt nach dem 0:6 gegen den FC Bayern ratlos und fehlt bei der Aussprache

In einem schönen Wortspiel mündete die Hoffnung auf den Klassenerhalt nach einer miserablen Partie. »Unter dem Strich müssen wir über dem Strich stehen«, glänzte Christian Lell wortakrobatisch. In den 90 Minuten zuvor hatte der Hertha-Verteidiger gegen den FC Bayern wie all seine Berliner Mitspieler bleiern, ängstlich und planlos agiert. Nach dem 0:6 (0:3) am Samstagabend gegen die Münchner steht Hertha BSC erstmals in dieser Saison auf einem Abstiegsplatz - als Vorletzter, direkt unter dem Strich.

Obwohl die Berliner seit Monaten im Abstiegskampf stecken, bedurfte es scheinbar des tabellarischen Beweises. Am Sonntag jedenfalls, nach dem üblichen Auslaufen, kam die Mannschaft mit Manager Michael Preetz sowie den Assistenztrainern René Tretschok und Ante Covic zur Krisensitzung zusammen. Einer fehlte jedoch bei der über einstündigen Aussprache. Coach Otto Rehhagel hatte die blaue Trainingskluft gegen einen stattlichen Anzug getauscht, um als Wahlmann der CDU im Reichstag den neuen Bundespräsidenten zu wählen.

Zweifelllos ein ehrenvoller und wichtiger Termin. Doch wenn die Situation bei Hertha BSC wirklich so bedrohlich ist, wäre auch gerade Rehhagels Anwesenheit erforderlich. Zum einen, weil er als Trainer natürlich in der Verantwortung steht. Zum anderen, weil selbst gestandene Führungsspieler hilfesuchend auf die Erfahrung des 73-Jährigen bauen. »Jetzt muss der Trainer ganz viel psychologische Arbeit leisten«, sagte Lell nach dem Spiel. Warum die Aussprache nicht verschoben wurde, bleibt ebenso ein Geheimnis des Klubs wie deren Inhalt.

Vielleicht gilt aber auch für Rehhagel selbst, was er nach der Partie über seine Spieler gesagt hatte. Zwei Tage würden sie bestimmt brauchen, um diese Niederlage zu verarbeiten. »Mein Plan war richtig, meine Pläne sind immer richtig«, versprühte Rehhagel verbale Zuversicht. Doch auf dem Podium bei der Pressekonferenz machte er erstmals in seiner Berliner Zeit einen ratlosen Eindruck.

Gegen die Bayern hatte sich Rehhagel etwas Neues einfallen lassen. Er wollte die schnellen und torgefährlichen Münchner Flügelspieler, Franck Ribery und Arjen Robben, stoppen. Dafür beorderte er den 20-jährigen Fanol Perdedaj in seinem dritten Erstligaspiel auf die ungewohnte Position des Rechtsverteidigers. Lell rückte ins defensive Mittelfeld. Nach 20 Minuten warf der Trainer seine Pläne wieder über den Haufen und ließ beide wieder tauschen.

Die Bayern führten nach Toren von Thomas Müller (9. Minute) und Arjen Robben (12./19.) mit 3:0. Perdedaj war gegen Ribery vollkommen überfordert und ließ den Franzosen unbedrängt den Führungstreffer vorbereiten. Lell irrte orientierungslos vor der Abwehr umher. Nach der Pause versuchte sich Alfredo Morales, der für Perdedaj eingewechselt wurde, gegen Ribery - und verursachte zwei Elfmeter. Stürmer Mario Gomez (50.) und Robben (67.) verwandelten sicher. Zwischendurch hatte Toni Kross das 5:0 (51.) erzielt.

Sind sechs Gegentore gegen die Bayern ein Grund für eine Krisensitzung? Nein, willenlos hatten sich die Berliner von der ersten Minute ihrem Schicksal ergeben. Die Münchner, angereist mit 14 Toren aus den letzten beiden Spielen, hatten ihnen das Alibi schon vorher gegeben. Rehhagels Ratlosigkeit ist ein Stück weit verständlich.

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