Fünf Jahre Ratlosigkeit

Am 25. April 2007 wurde in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen

  • René Heilig, Erfurt
  • Lesedauer: 3 Min.
Michèle Kiesewetter war (vermutlich) das zehnte und letzte Mordopfer der rechtsextremen Terrorzelle. Ihr Kollege Martin A. wurde durch Schüsse schwer verletzt. Das Motiv des Verbrechens gibt nach wie vor Rätsel auf.

Es war eine Hinrichtung, so planvoll wie gnadenlos. In den Mittagsstunden des 25. April 2007 ist die 22-jährige, aus Thüringen stammende Polizistin Michèle Kiesewetter auf der Heilbronner Theresienwiese erschossen worden. Es müssen, so belegt das Video des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), mehrere Täter gewesen sein.

Warum die junge Frau umgebracht wurde, ist unklar. Angeblich auch für das Bundeskriminalamt (BKA) und die Bundesanwaltschaft, die seit dem 11. November 2011 ermitteln. Zuvor, am 4. November, hatte man die Waffe Kiesewetters und ihres Kollegen, der damals schwer verletzt wurde, in Eisenach gefunden - in jenem Wohnmobil, in dem die beiden männlichen Mitglieder der »Zwickauer Zelle«, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, nach einem Bankraub tot aufgefunden worden waren. Zusammen mit ihrer Komplizin Beate Zschäpe sollen sie von September 2000 bis April 2006 neun Morde an Migranten begangenen haben.

Der Mord an Kiesewetter passt so gar nicht ins mühsam erarbeitete Tatbild, geschweige ins bislang ermittelte Motiv der Täter: Rechtsradikaler Ausländerhass soll sie geleitet haben. Je bohrender die Fragen wurden, umso abstrusere Tatbegründungen wurden von den Ermittlern - eingeschlossen der BKA-Präsident - geliefert. Keine überzeugt.

Doch was ist schon überzeugend an den Erklärungen zum Entstehen und Wüten der braunen Terrorzelle. Drei Untersuchungsausschüsse - einer im Bundestag, einer im Thüringer und einer im Sächsischen Landtag sollen klären, wieso die Sicherheitsbehörden so kläglich versagt haben bei der Verhinderung oder Eindämmung rechtsradikaler Gewalt. Und wieso man der Bande nicht früher auf die Fährte gekommen ist.

Doch, so zeigte sich zu Wochenbeginn in Erfurt: Die meisten parlamentarischen Kontrolleure haben enormen Nachholbedarf in Sachen Rechtsextremismus. Daher holten sie sich zunächst einmal 17 Sachverständige in den Thüringer Ausschuss. Die sollten aus ihrer Sicht die Frage nach fahrlässigem Versagen der Behörden oder gar bewusstem Vertuschen beantworten. Gefordert waren Antworten darauf, wieso Neonazis im Freistaat Thüringen eine solche Macht erringen konnten, dass junge Leute, die sich ihrer rassistischen Ideologie verweigerten, Landstriche und Stadtteile mieden, ihre Wohnung nur bewaffnet verließen, und wieso sie zu rennen begannen, wenn sich ein mit Gleichaltrigen besetztes Auto näherte.

Es gab viele, zum Teil sehr seriöse Erklärungen zum Versagen der Behörden. Wissenschaftler haben vieles erforscht, verantwortliche Politiker haben wenig begriffen und noch weniger getan, um rechtsextremistischer Gewalt klare Grenzen zu setzen. Polizisten sahen weg, Verfassungsschützer wurden objektiv zu Kumpanen gewiefter Neonazi-Führer.

Das Fazit der fast elfstündigen, zum Teil durchaus hochkarätig besetzten Anhörung kann - Marx möge die Anleihe verzeihen - lauten: Die Sachverständigen haben den Rechtsextremismus nur verschieden erklärt. Es kommt aber darauf an, ihn zu bekämpfen.

Der Bericht von Peter Reif-Spirek - er arbeitet bei der Landeszentrale für politische Bildung - verdeutlicht die Zustände in dem Land, in dem die erste straff organisierte Nazi-Kameradschaft namens Thüringer Heimatschutz (THS) beispielhaft für andere in der Republik Fakten schuf. Es war 1998, jenes Jahr also, in dem die THS-Aktivisten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe abtauchten und zu Terroristen mutierten.

Reif-Spirek hatte in Jena eine Diskussionsveranstaltung über die Verbrechen von SS-Medizinern im Vernichtungslager Auschwitz organisiert. Im Publikum saßen - drohend und höhnisch lachend - Neonazi-Trupps unter ihrem Anführer André Kapke, einem mutmaßlichen Unterstützer des späteren NSU. Um die Sicherheit der anderen Zuhörer zu gewährleisten, musste man die Polizei rufen. Der Verfassungsschutz verkündete anschließend, die Veranstaltung sei »störungsfrei« verlaufen. Aufgefordert, diese Lüge richtig zu stellen, schrieben die Geheimdienstler dann: Im Publikum gab es einige Jugendliche, die grinsten.

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