Wer will schon einem Dementen ins Gebiss schauen?

Gestern debattierte der Bundestag in Berlin über ein Pflegegesetz, das einen Kritiker im fernen München furchtbar wütend macht

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Bei der ersten Debatte über ein neues Pflegegesetz ging es gestern im Berliner Bundestag gesittet zu - auch wenn die Oppositionsparteien heftige Kritik am Entwurf des Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr (FDP) übten. Ein Kritiker deutscher Pflegepolitik versteht nicht, warum die Empörung nicht größer ist.
CLAUS FUSSEK: »Wir führen vor, dass wir die alten Menschen nicht betreuen können.«
CLAUS FUSSEK: »Wir führen vor, dass wir die alten Menschen nicht betreuen können.«

Claus Fussek packt am gestrigen Donnerstag schon beim Anschauen des ARD-Morgenmagazins die Wut. Da sieht der Münchner Sozialpädagoge, der sich als Kritiker unhaltbarer Zustände in Pflegeeinrichtungen einen Namen gemacht hat, den Bundesgesundheitsminister und hört ihn sagen: »Das ist ein großer Schritt. Jetzt sorgen wir erstmals dafür, dass 500 000 Demenzkranke im Gesetz berücksichtigt werden.«

Noch ein paar Stunden später explodiert der Experte fast: »An dem gleichen Punkt waren wir 1993 schon einmal, das kann man in Zeitungen nachlesen.« Fussek hält die Debatten über Pflegepolitik für immergleiche Rituale, die mit der Wirklichkeit längst nichts mehr zu tun haben. Seit er seine Mutter pflegt, erlebe er das hautnah. »Vier Euro am Tag, um die Betreuung Demenzkranker zu unterstützen«, schimpft der 53-Jährige angesichts der aktuellen Vorschläge. »Das können sie behalten, das ist unanständig.«

Was Mitglieder der Regierungskoalition gestern morgen im Parlament als »erhebliche Verbesserung« (Daniel Bahr), »Flexibilisierung« (Christine Aschenberg-Dugnus, FDP) oder »sehr, sehr vernünftigen Schritt« (Willi Zylajew, CDU) bezeichnen, wird von Opposition und Betroffenenverbänden heftig kritisiert. Die SPD spricht von einer »Schande« (Karl Lauterbach). Die Grünen prangern »Lohndumping« (Elisabeth Scharfenberg) an, weil den ohnehin schlecht bezahlten Pflegekräften auch noch ortsübliche bessere Bezahlung verweigert werden soll. Die LINKE prangert an, dass die Versicherungsindustrie mit den geplanten privaten Zusatzversicherungen ein »liberales Zubrot« bekommen soll. Eine sogenannte Pflege-Riester-Rente, so deren Expertin Kathrin Senger-Schäfer, würde lediglich die Versicherungswirtschaft pflegen. Kritisiert wurde auch der Plan höherer Zuwendungen für Ärzte, wenn sie Pflegeheime besuchten. Dass dies bis jetzt nicht zur Genüge geschehe, hält Claus Fussek für skandalös. Aber wer wolle schon einem Dementen ins Gebiss schauen?

Unverständnis rief bei den meisten Oppositionsparlamentariern dann auch die Tatsache hervor, dass vom Bundesgesundheitsministerium für die Neudefinition des Pflegebegriffs vom Gesundheitsministerium ein neuer Beirat ins Leben gerufen wurde, obwohl der alte diese Definition bereits vor drei Jahren fertig hatte. Einzelne Rednerinnen und Redner vermuteten, dass es hier nur darum gehe, die neue Definition erst kurz vor der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2013 vorzustellen. So wolle man die Tatsache hinauszögern, dass man ungleich viel mehr Geld in die Hand nehmen müsste, um die Pflegeprobleme zu lösen. Der neue Pflegebegriff hätte nämlich zur Folge, dass viel mehr Menschen als heute in den Genuss bestimmter Betreuung kommen müssten, das sind vor allem die 1,2 Millionen Demenzkranken, deren Zahl sich sich nach Expertenschätzungen bis 2060 auf 2,5 Millionen mehr als verdoppeln wird.

Bereits nach dem am Dienstag vorgestellten Bericht der Krankenkassen über die Mängel in Pflegeheimen hätte eine Welle der Empörung über das Land rollen müssen, meint Claus Fussek: »Wo ist die Kirche, wo Amnesty International, wo die Kanzlerin, die Justizministerin, wenn bekannt wird, dass 14 000 alte Menschen ans Bett gefesselt werden?« Dass gute Pflege nicht zu bezahlen sei, hält der Sozialpädagoge für eine Ausrede. Banken würden ja auch gefragt, was sie brauchten. Fussek glaubt eher, dass die Bevölkerung kollektiv verdränge, was da auf sie zukommt. Es gebe keine Lobby für die Probleme der Älteren, in keinem Wahlkampf seien sie ein Thema, auch nicht bei den Grünen oder LINKEN. »Wir diskutieren hierzulande über alles; Benzinpreise, Zugverspätungen, die Nachfolge von Gottschalk. Wieso schaffen wir es nicht, diese Frage zur Schicksalsfrage zu machen und die Pflege ehrlich anzupacken?«

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