Unerfahrener Lokführer, überforderte Mitarbeiter

Landgericht Köln versucht, Klarheit ins Zugunglück von Brühl zu bringen

  • Erich Preuß
  • Lesedauer: 5 Min.
Seit dem 1.Juni versucht die Erste Große Strafkammer am Landgericht Köln, das Zugunglück von Brühl aufzuklären. Am 6.Februar 2000 war dort der Nachtzug Amsterdam-Basel entgleist. Neun Menschen kamen ums Leben, 149 wurden verletzt.
Bis zum November soll verhandelt werden, so kompliziert erscheint die Materie. Von einem »Kompetenz-Wirr-Warr«, einem Chaos bei der Bahn zu schreiben oder ein falsches Signal allein als die Ursache der Katastrophe anzusehen, ist jedoch verfehlt. Jeder Prozesstag gewährt Einblicke in das Innenleben der Deutschen Bahn, das für die Richter, aber auch für die Medien nicht einfach zu durchschauen ist.
Der angeklagte 29-jährige Lokomotivführer Sascha B. verweigerte bisher jede Aussage. Einem Notfallmanager hatte er unmittelbar nach dem Unfall ins Diktiergerät gesagt, er sei überrascht gewesen, dass die Weiche auf Ablenkung stand. Er hätte sie in gerader Stellung erwartet. Das sei doch ein normaler Gleiswechselbetrieb gewesen! Das war er eben nicht!
Die Anwältin des Lokomotivführers beruft sich in einem zwölfseitigen Brief, den das Gericht verlas, auf ein »Wissensprofil des Herrn B.« Vermutlich wird sie seine Schuld bestreiten, zumindest den Schuldanteil zu mindern versuchen. Das »Wissensprofil« von B. entstand noch bei der Bundesbahn, wo er die Prüfung als Lokführer nicht bestand. Er wechselte zu »Häfen und Güterverkehr Köln«, wurde dort zum Lokführer ausgebildet und geprüft, rangierte oder fuhr »rund um den Kölner Dom«.

Inventur statt Schulung

Als die Deutsche Bahn (DB) anlässlich der EXPO 2000 Lokführer suchte, bewarb sich B. und wurde am 2.August 1999 im DB-Geschäftsbereich Reise & Touristik eingestellt. Von den verpatzten Prüfungen bei der Bundesbahn sagte er nichts. Im Regionalbereich Köln konnte der für die Lokführer zuständige Franz Sch. weder die Personalakte noch die Prüfungsunterlagen von B. finden. Routiniert ordnete er dessen Einweisung, Belehrungsfahrten und eine Nachschulung an. Teamchef S. kannte jedoch B. von früher und sagte dem Sch.: »Den kenne ich. Der ist bei mir zweimal durch die Prüfung gefallen!«
Diese Mitteilung änderte nichts, im Gegenteil: Der angehende Lokomotivführer wurde zu einer dringenden Inventur ins Lager geschickt, die bis zum Ende der Nachschulung dauerte - deshalb konnte diese von ihm nicht mehr besucht werden. Nun wurde B. wenigstens über die »sicherheitsrelevanten Dinge« geprüft, wozu auch das Verhalten beim Befahren des falschen - also des linken - Gleises gehörte. Selbst altgediente Lokomotivführer haben damit ihre Schwierigkeiten, weil das vom Regelbetrieb abweichende Verfahren nicht so häufig vorkommt. B. bestand die zweistündige Prüfung mit dem nicht gerade berauschenden Ergebnis: ausreichend.
Bei der alten Bundesbahn wäre er nun auf die Rangierlokomotive gestiegen, um nach Jahren, wenn er sich bewährte, einmal in den Schnellzugdienst zu kommen. Bei Reise & Touristik fährt man aber nur Schnellzüge! B. durchlief daher die so genannten Verwendungsprüfungen auf verschiedenen Lokomotiven, die Schnellzügen vorgespannt werden, und er erwarb durch Mitfahren im Führerraum die Streckenkunde (vier Fahrten in jeder Richtung, früher waren sechs nötig). Bis zum Unfall kam B. 31-mal durch den Bahnhof Brühl, aber nie über das berüchtigte Gleis 3. In der Unglücksnacht wurde in Brühl gebaut, so dass die Züge bereits in Kalscheuren, dem rückgelegenen Bahnhof, auf das linke Gleis wechselten. In Brühl kam der Zug wegen der Baustelle nicht aufs rechte Gleis. Er blieb bis Sechem (vor Bonn) auf dem linken Gleis.
Ein Gleiswechselbetrieb, wie er auf vollständig ausgebauten Strecken möglich ist und signalisiert wird, war das nicht. In Brühl hatte man beim Bau des Zentralstellwerks und der Vereinigung zweier Bahnhöfe, des Güter- und des Personenbahnhofs, Signale eingespart. Deswegen mussten die Züge auf Ersatzsignal (drei weiß leuchtende Lichter am Halt zeigenden Signal) über eine Abzweigung zum Gleis 3 fahren, weil dort ein Ausfahrsignal stand. Die Entfernung zwischen dem Ersatz- und dem Ausfahrsignal war zwei Kilometer lang. Das ist ganz ungewöhnlich und wird auf anderen Bahnhöfen durch Zwischensignale unterbrochen.
Der unerfahrene B. nahm an, er sei nach der Vorbeifahrt an dem Ersatzsignal auf der freien Strecke und könne nun beschleunigen. Zusätzlich irritiert wurde er durch ein Langsamfahrsignal und einen Eintrag im »Verzeichnis der Langsamfahrstellen und sonstigen betrieblichen Besonderheiten«, kurz »La« genannt, wonach dort 120 km/h erlaubt waren. Das Ersatzsignal gestattete zwar die Vorbeifahrt am Haltsignal, aber nur mit 40 km/h, bis das nächste Signal in Fahrtstellung erreicht ist. Es eliminiert alle anderen Signale, die mehr als 40 km/h anzeigen. Was B. noch übersah: Das Vorsignal am Haltsignal war dunkel geschaltet. Dadurch konnte er nicht wissen, was ihm das nächste Hauptsignal anzeigen wird. Schon deswegen hätte er vorsichtig fahren müssen.
Zur Sensation in den Medien wurde das Signal für 120 km/h, und auch im Gerichtssaal spielt es eine Rolle. Der »La«-Bearbeiter H. hatte nicht die Bau- und Betriebsanweisung (Betra) auf dem Tisch, um die Geschwindigkeiten in die »La« zu übernehmen, weil der Betra-Bearbeiter St. in Urlaub war und es keine Vertretung gab. Der Redaktionsschluss nahte, die »La« musste gedruckt werden. H. übernahm die Geschwindigkeiten aus dem Antrag zur Betra. Als St. wieder am Arbeitsplatz war und die Betra erarbeitete, wurde bei einer Feinabstimmung auf den Widerspruch zwischen den 120 km/h auf Grund des Schutzes der Bauarbeiter und den 40 km/h auf Grund des Ersatzsignals aufmerksam gemacht. Doch die La war gedruckt und verteilt. Für eine Änderung war es zu spät. So entschloss man sich, in die Betra einen Eintrag aufzunehmen: »Die Triebfahrzeugführer bitte über die Fahrt durch Gleis 2 im Güterbahnhof und Gleis3 im Personenbahnhof verständigen«. Die Bitte richtete sich an die Fahrdienstleiter in Brühl. Die kannten zwar den neuen, höchst unverbindlichen Richtlinien-Stil der Deutschen Bahn, ordneten den Eintrag aber als Bitte und nicht als Auftrag ein. Dieser war auch seltsam, denn bisher wurden Lokführer per Signale über Geschwindigkeiten, aber nicht über den Weg informiert.

Unausweichliche Fehler

Was Gerichtsreporter als Kompetenz-Wirr-Warr in die Welt tragen, ist auch am zehnten Prozesstag nicht als solches zu erkennen, vielmehr die Überforderung der Betra-Bearbeiter, die »wie am Fließband« (so der Vorsitzende Richter Heinz Kaiser) jährlich 1800 Betra zu prüfen und abzustimmen haben. Dass es unter solchem Druck auch einmal zu einem Fehler kommt, ist unausweichlich. Ob deswegen den drei mit der Betra befassten Angeklagten ein Strick gedreht wird, ist fraglich. Ob das Gericht den zwar formal ausreichend ausgebildeten und korrekt geprüften, aber für den Schnellzugdienst und die besondere Situation in jener Nacht ganz unerfahrenen Lokomotivführer B. verurteilt, ist genauso ungewiss. Prozessbeteiligte vermuteten Mitte Juli, das Verfahren werde eines Tages eingestellt.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -