Gedanken, Geschichten, Gedichte und Briefe an Ulrike Poppe

Der 92-jährige Gerhard Stockenberg schreibt gegen den Zeitgeist und sorgt sich auch deshalb um seine Partei

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 6 Min.
Zwischen Karl-Marx-Denkmal, Konzerthalle und Oder wohnt Gerhard Stockenberg in Frankfurt. Diese Dreieinigkeit von Politik, Kunst und Natur ist es, die dem 92-Jährigen gefällt. Und ihn zum Schreiben inspiriert.
Gerhard Stockenberg (l.) und der »Erfinder« der Roten Federn, Erik Rohrbach, auf der Frankfurter Oderbrücke, wo die LINKE seit 20 Jahren am 1. Mai das Brückenfest feiert.
Gerhard Stockenberg (l.) und der »Erfinder« der Roten Federn, Erik Rohrbach, auf der Frankfurter Oderbrücke, wo die LINKE seit 20 Jahren am 1. Mai das Brückenfest feiert.

Er hat mir nach unserem Treffen in Frankfurt an der Oder noch schnell einen Brief in die Redaktion hinterher geschickt. Zu sehr hat es in seinem Kopf rumort, nachdem wir uns über die Linkspartei unterhalten und eine Differenz zur Regierungsbeteiligung festgestellt hatten. »Ich denke, viele Wähler der LINKEN wollen, dass eine Kraft da ist und möglichst stark werden soll, die der Übermacht der beiden ›Volksparteien‹ so viel Paroli bietet wie möglich«, schreibt Gerhard Stockenberg, der das Mitregieren seiner Partei in seinem Bundesland Brandenburg mit Argusaugen verfolgt. Die Piraten-Wähler wollten doch nicht etwa, dass diese Partei regiert, vielmehr sähen sie in ihnen eine Kraft des Widerstandes »und deshalb sind viele ehemalige Linkswähler auf die Piraten ausgewichen, weil sie bei der LINKEN nicht mehr das finden, was sie wollen«, lässt mich der 92-Jährige im Nachgang unseres Gesprächs wissen. Und das durchaus energisch: »Dies ist mein Abschluss unserer Diskussion«.

Zeitreise durch ein Leben

Dass der schriftlich erfolgte, liegt in Stockenbergscher Logik. Denn Schreiben ist vor allem sein Ding, auch wenn er das 60 Jahre beinahe vergessen hatte. Erst durch die Initiative der »Roten Federn«, die die LINKE in Frankfurt aus der Taufe hob, hat er sich an seine Leidenschaft aus jungen Tagen erinnert. Hat alte Aufzeichnungen über Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr, die damals »einfach aus ihm rausmussten«, aber nicht einmal seine Familie kannte, wieder hervorgekramt und neu bearbeitet. Begann mit Notizen über sein »ganz normales« Leben in der DDR, damit bei der Tochter und den beiden Enkeln »dereinst etwas bleibt von mir« - und alle anderen, die heute oft so ahnungs- wie schonungslos urteilen, erfahren können, wie es wirklich war. Schreibt Gedichte, Märchen und kleine Essays. Die Geschichte über das Mobbing von vier roten Tulpen gegenüber der einzigen gelben in der Vase auf seinem Tisch hat er mir vergnügt vorgelesen.

Der gelernte Industriekaufmann, der ganz augenscheinlich auch Freude am Vortrag hat, veröffentlichte inzwischen zwei Miniaturbücher, an zwei weiteren arbeitet er. Die »Erstveröffentlichung« heißt »Zeitreise durch mein Leben«, in der Anthologie »Aus meiner roten Feder« sind 50 autobiografische Texte und beobachtende Geschichten erschienen. Und die sind durchaus gefragt, wie Stockenberg erst jüngst beim 20. Brückenfest der Linkspartei in der Grenzstadt am 1. Mai erfahren konnte. Wenn seine Ärztin wie auch Nachbarn und Bekannte in einer Gaststätte geradezu auf Neuigkeiten aus der Schreibwerkstatt warten und die dann auch weiterreichen - das hat ihn höchstens anfänglich gewundert. Mittlerweile schreibt mancher von denen selbst. Die »Roten Federn« in Frankfurt bekommen vor allem von jenen Zuwachs, die sich für die LINKE noch nützlich machen wollen, aber an Infotischen nicht mehr stehen können. Doch die Weitergabe von Erfahrungen - guten wie weniger guten aus einem verschwundenen Land - ist ihnen wichtig. Wie auch die Warnung vor neuen, alten Gefahren. Sie, denen wie Stockenberg durch den Nazikrieg ein Teil der Jugend gestohlen wurde und die heute mit ansehen müssen, wie Neonazis durch ihre Stadt ziehen, wollen und können dazu nicht schweigen.

Vielleicht wäre aus Stockenberg irgendwann zumindest ein »Schreibender Arbeiter« in der DDR geworden. Denn in deren Anfangsjahren hat der Sohn eines Schlossers und jüngstes von acht Kindern in der Volkshochschule einen Kurs »Gutes Deutsch« besucht und dort viel Lob erfahren. Anders als in der Volksschule zu Nazizeiten, als der Lehrer beim Vortrag seines ersten eigenen Gedichtes kurzerhand befand: »Das hast du nicht allein gemacht«, hat man ihm durchaus Talent bescheinigt. Aber Stockenberg gönnte sich nicht die Zeit, es zu pflegen. Handel, Energieversorgung, Wasserbetrieb, Zusatzstudium, SED-Verpflichtungen, Familie - irgendwann hat er die Schreiberei ad acta gelegt. Erst nachdem seine Frau 2007 gestorben war - was den Mann so traf, dass er in einer Erzählung schreibt, er habe nur noch eine Wohnung und kein Zuhause mehr -, fing er wieder an, sich schriftlich zu äußern. »Damit ich als alter Mann nicht nur vor der Glotze sitze und noch etwas zumindest gedanklich bewegen und mich einmischen kann in den politischen Disput.«

Da hätte der 92-Jährige gerade derzeit seiner Partei eine Menge ins Stammbuch zu schreiben. Das ewige Streiten geht wie vielen an der Parteibasis auch Stockenberg auf die Nerven, dass die LINKE sich zu wenig kümmert um die Leute und sich verzettelt, macht ihm zunehmend Sorgen. Am Tag der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat er zwei Minuten nach sechs Uhr ziemlich sauer den Fernseher ausgestellt.

Aber sauer hin oder her - Stockenberg hofft darauf, dass die Partei sich wieder berappelt. So schnell gibt einer, der so alt geworden ist, denn doch nicht auf. Das übrigens musste auch Ulrike Poppe erfahren. Mit der brandenburgischen Landesbeauftragten »zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur« befindet sich der diesbezüglich eher zornige alte Mann nämlich seit geraumer Zeit im Briefwechsel. Anfang April hat er sich an sie gewandt, weil er bei allen Entschädigungsforderungen der Opfer der Staatssicherheit vermisst, dass über die Gründe von deren Inhaftierung gesprochen wird. Und hat die ehemalige Bürgerrechtlerin mit einem Abschnitt aus seiner »Zeitreise« konfrontiert, wo einer seiner ehemaligen Kollegen von der Organisation Gehlen angeworben wurde und mit Wissen und Billigung des MfS auf dieses Angebot eingegangen ist. Der hat, abenteuerlich nach Hause zurückgekehrt, Spitzel und Saboteure enttarnt, die in der DDR ihr Unwesen trieben und heute garantiert als Diktaturopfer gelten, während sein Kollege vermutlich als Täter eingestuft wird. Gerechtigkeit sieht für Stockenberg anders aus.

Vermutlich auch, weil er mit dem geschriebenen Wort gut umzugehen weiß, sah sich Ulrike Poppe veranlasst, ihm zu antworten. Zwar räumt sie ein, dass »auch in einem demokratischen System vieles veränderungswürdig« sei, kontert aber auch mit ihrer ganz persönlichen Erfahrung, in der DDR inhaftiert worden zu sein, weil man ihr ob des Engagements bei »Frauen für den Frieden« Landesverrat vorwarf. Weil sie Stockenberg an Kinder aus christlichen Familien erinnert, die kein Abitur machen konnten, hat sie ihn zu einem weiteren Brief herausgefordert. Da verweist er nicht ohne Ironie auf die Pfarrerstochter und Kanzlerin, die durchaus mit einem Abitur gesegnet wäre - und erinnert seine »Briefpartnerin« daran, was der Bruch des Bildungsprivilegs für einen Arbeiterjungen wie ihn bedeutete.

Es muss aus ihm raus

Dass er nur zweimal in seinem Erwachsenenleben geweint hat - als er, der Hitlerjunge, aus dem Krieg zurückkam und begriff, den Falschen aufgesessen zu sein, und als sein Land 1989 unterging - hat Stockenberg Frau Poppe nicht geschrieben. In seinen Lebenserinnerungen allerdings verschweigt er das nicht. Weil es heute so wie vor 60 Jahren »aus ihm raus muss«. »Die Zeit, die ich noch habe, nutze ich auch weiterhin, mit meinen Möglichkeiten als Linker für eine friedliche und solidarische Gesellschaft einzutreten und auch mit meinem geschriebenen Wort dazu meinen persönlichen Beitrag zu leisten«, hat sich Stockenberg vorgenommen. Und hofft, noch zu erleben, dass seine Partei wieder zu jener Kraft wird, die sie vor Jahren schon mal war. Den Disput über Regierungsbeteiligung können wir dann ja fortsetzen.

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