Aus der Not geboren

Polizei und Behörden schließen illegale Kinderkrippen in Marseille

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Innerhalb weniger Wochen sind in Marseille gleich zwei nicht gemeldete und genehmigte Kinderkrippen »ausgehoben« worden, deren Betreuerinnen schwarz gearbeitet haben.

Frankreich ist derzeit eines der geburtenstärksten Länder Europa und verdankt dies unter anderem auch einem vergleichsweise guten Angebot an Krippenplätzen und Tagesmüttern. Doch deren Verteilung ist territorial sehr unterschiedlich, und in der Pariser Region oder dem Mittelmeerraum wird die Suche nach einem Betreuungsplatz oft zur Nervenprobe - so auch in Marseille, der zweitgrößten Stadt Frankreichs.

Hier wurden in den letzten Wochen gleich zwei illegale Kinderkrippen unter Einsatz von Polizei und Inspektoren der Sozialbehörden »ausgehoben«. Anfang der Woche entdeckten Kontrolleure der Kinderschutzbrigade die illegale Einrichtung einer Sechzigjährigen, die bis zu 14 Kinder in ihrer 140-Quadratmeter-Wohnung hütete. Sie war seit 17 Jahren Tagesmutter, hatte aber 2001 aus noch nicht bekannt gegebenen Gründen ihre amtliche Erlaubnis verloren - und trotzdem weitergearbeitet. Ihr zur Seite standen bis zu vier Betreuerinnen, die ebenfalls schwarz beschäftigt wurden.

Bereits Ende Juni war in Marseille eine vergleichbare Struktur aufgedeckt worden, in der jedoch deutlich kritischere Bedingungen herrschten: Zum Zeitpunkt der Razzia wurden dort 25 Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und drei Jahren von zwei Frauen in einer nur 50 Quadratmeter großen Zwei-Zimmer-Wohnung und einem Innenhof von 30 Quadratmetern gehütet. Nach Angaben der Tageszeitung »La Provence« entsprach die heruntergekommene Wohnung nicht den Sicherheitsbestimmungen für eine Kinderbetreuungsstätte. Die Leiterin der illegalen Krippe - eine 59-jährige frühere Krankenschwester - muss sich demnächst vor Gericht wegen »Schwarzarbeit« verantworten; der Anklagepunkt der »Lebensgefährdung« wurde inzwischen fallengelassen.

»Diese Einrichtung ist aus Solidarität und Kameradschaftsgeist entstanden«, so der Anwalt der Krippenleiterin, Christophe Pinel. »Sicher sind hier nicht alle Regeln streng eingehalten worden, doch alles ist mit der Zustimmung der Eltern geschehen, ohne jegliche Spur unzureichender Betreuung.« Nach Ansicht ihres Anwalts sei die Leiterin »ihrer Arbeit gewissenhaft nachgegangen, ohne aus der Situation der Eltern Profit zu schlagen«. Er betont, dass die »informelle« Struktur ursprünglich entstanden sei, um vier Freundinnen vorübergehend einen Dienst zu erweisen. Doch nach und nach habe sich herumgesprochen, dass hier Kinder gut betreut würden, und immer mehr Eltern hätten den insgesamt drei Betreuerinnen ihre Kinder anvertraut. Die Mehrzahl dieser Eltern sind so genannte »intermittents du spectacle«, das heißt saisonal beschäftigte Schauspieler, Bühnenkräfte und Techniker der Film-, Fernseh- und Theaterbranche. Sie zahlten täglich 17 Euro an die nicht gemeldete Einrichtung. Alle versichern, sich zuvor vergeblich um einen Platz in einer öffentlichen Kinderkrippe bemüht zu haben. Man habe keine andere Wahl gehabt, als auf eine alternative Lösung zurückzugreifen, so die Eltern.

Beide Fälle illustrieren den offenkundigen Mangel an Krippenplätzen, der berufstätigen Eltern legal nur noch die Möglichkeit einer sehr viel teureren Tagesmutter lässt - und dies in einer Stadt, in der bereits jeder zweite Bewohner so wenig verdient, dass er von der Steuer freigestellt ist. In Marseille gibt es nur 2750 Krippenplätze bei insgesamt 33 000 Kindern unter 3 Jahren, die einen bräuchten.

Die Drei- bis Sechsjährigen besuchen dann eine der öffentlichen Vorschulen, die es fast überall in ausreichender Zahl gibt. Doch angesichts des Mangels an Betreuungsplätzen für jüngere Kinder und der hohen Kosten - in Marseille sind es 60 Euro pro Tag - sind immer mehr Eltern versucht, auf illegale Kinderkrippen zurückzugreifen. In ganz Frankreich fehlen insgesamt etwa 400 000 Betreuungsplätze. »Wenn der Staat nichts unternimmt, drohen solche illegalen Strukturen, die für die Kinder eine potenzielle Gefahr darstellen, immer häufiger zu werden«, warnt Alain Feretti vom Nationalen Bund der Familienvereinigungen.

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