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Mangel an Begegnung

Vor den Paralympics zeigt sich erneut, dass Inklusionsversuche in Deutschland oft scheitern

  • Ronny Blaschke, London
  • Lesedauer: 3 Min.
Traditionell bieten die Paralympics zwei Wochen Zeit, die Wunschbotschaften behinderter Menschen unters Volk zu bringen. Direkte Teilhabe steht an erster Stelle - auch im Sport.

Friedhelm Julius Beucher, ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter, ist noch immer Politiker durch und durch. Beim Tag der offenen Tür im Kanzleramt wird er auf einer Bühne sitzend vom Moderator nach Medaillenchancen deutscher Behindertensportler gefragt. Beucher streichelt eine einäugige Plüschfigur Mandeville, das Maskottchen der Paralympics, geht dann aber nur kurz auf die Frage ein. Sogleich spannt er einen größeren Bogen: »In einem Land, das weitgehend nicht barrierefrei ist, müssen wir dazu beitragen, dass die Barrierefreiheit in den Köpfen erst mal geschaffen wird.« Soll heißen: Was nützen Medaillen, wenn behinderte Menschen an anderer Stelle ausgegrenzt werden?

Heute beginnen die 14. Sommer-Paralympics in London mit 4200 Athleten aus 166 Ländern. Traditionell hat der Deutsche Behindertensportverband (DBS) knapp zwei Wochen Zeit, um seine Wunschbotschaften unters Volk zu bringen: mehr Aufmerksamkeit, mehr Sponsoren, mehr Respekt. Beucher, der dem DBS seit 2009 vorsteht, möchte die klassischen Fragen um eine politische erweitern: Wie sehr symbolisiert die kleine paralympische Elite die Integration von behinderten Menschen? In Deutschland leben 13 Millionen mit einer Einschränkung.

Geht es nach den Vereinten Nationen, müssten Sportler mit und ohne Behinderung in denselben Verbänden und Vereinen organisiert sein, denn die UN fordern statt Integration mittlerweile Inklusion: eine Veränderung des Systems, die eine volle Teilhabe für alle möglich macht. In Deutschland trat dieses Übereinkommen 2009 in Kraft. Doch: »Wir haben heute noch Hallen und Plätze, wo unsere Sportlerinnen und Sportler die Barrieren nicht überwinden können«, sagt Beucher.

In Großbritannien oder Kanada werden behinderte und nichtbehinderte Sportler von denselben Trainern im gemeinsamen Umfeld betreut, sie unterliegen der gleichen Förderung. Ein deutscher Paralympics-Sieger in London wird von der Deutschen Sporthilfe neuerdings eine Prämie von 7500 Euro erhalten, für Olympiagold ohne Handicap war die Auszahlung doppelt so hoch. Die Ungleichheit bleibt strukturell tief verankert.

»Viele Nichtbehinderte haben nie gelernt, mit behinderten Menschen umzugehen«, sagt Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. »Man begegnet sich nie, weil wir gesonderte Sportarten, gesonderte Arbeitsbereiche, gesonderte Wohnbereiche haben.« Inklusion scheitert im Sport oft an fehlender Bereitschaft der Verbände. Mit kleinen Ausnahmen: Rollstuhlfahrerin Manuela Schmermund misst sich in der Bundesliga mit Schützen ohne Behinderung. Die paralympischen Schwimmer aus Berlin trainieren am Olympiastützpunkt mit Athleten ohne Behinderung. In vielen Rollstuhlbasketballklubs spielen auch Nichtbehinderte, um Klischees abzubauen.

In Deutschland ist die sportliche Trennung ein Spiegel des Schulsystems, das nach der Verfolgung von behinderten Menschen in der NS-Zeit stark auf Sonderpädagogik und Spezialisierung gesetzt hat. Weniger als zehn Prozent der fast 500 000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden heute hierzulande an Regelschulen unterrichtet, in Schweden, Norwegen oder Portugal sind es mehr als 90 Prozent. »Es ist schwierig zu vermitteln, dass auch an Regelschulen eine angemessene Förderung möglich ist«, sagt Erziehungswissenschaftler Willibald Weichert. Der inklusive Nachholbedarf erfordere Investitionen und viel Aufklärungszeit.

Deshalb ist sich Friedhelm Julius Beucher bewusst, dass Inklusion im Sport vorerst ein Wunsch bleiben wird. Er hält auch das Ziel einiger Aktivisten, Olympia und Paralympics zusammenzulegen, für logistisch unmöglich: »Wir sollten erst mal an der Basis die Lücken füllen.« Talentförderung, Antidopingprojekte, Trainerausbildung, Sport an Universitäten, regionale Wettkämpfe: Auf vielen Feldern könnten Partnerschaften ausgebaut werden. »Wir wollen nicht besser behandelt werden«, sagt die Paralympics-Schwimmerin Kirsten Bruhn. »Wir möchten gleich behandelt werden.«

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