Die anonymisierte Schuld

Statistisches Bundesamt gab Studie über Volkszählungen in der Nazi-Zeit heraus

Man wolle sich der historischen Verantwortung stellen, erklärte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen. Am Montag präsentierte er in Berlin eine von seinem Amt und dem Bundesinnenministerium finanzierte Studie über Volkszählungen in der NS-Zeit.
Non liquet - die Sache ist noch nicht aufgeklärt, pflegten die alten Römer zu sagen, wenn die Schuld eines Angeklagten nicht bewiesen werden konnte. An diese Floskel, die das Urteil ersparte, fühlte man sich erinnert, als die Studie über die amtliche Statistik zur Zeit des Faschismus in Deutschland vorgestellt wurde. Zwar ist das Statistische Bundesamt nicht formal angeklagt für die Taten bzw. Untaten seiner Vorgänger-Institution 1933 bis 1945, aber es steht doch seit geraumer Zeit unter öffentlichem Druck, wie Präsident Hahlen auf ND-Nachfrage eingestand. Bereits anlässlich der Volkszählung in der BRD 1983 hatten die forschenden Publizisten Götz Aly und Karl Heinz Roth die Arbeit der Statistiker zur NS-Zeit unter die Lupe genommen. Sie legten dar, wie das Statistische Reichsamt den braunen Machthabern ein bizarres System verschiedener Karteien, Zählungen, Meldegesetze und Kennkarten zur restlosen Erfassung und Klassifizierung der Bevölkerung sowie zur schließlichen »Auslese« und »Ausmerze« von »Fremdkörpern« in die Hand gab. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch »Die restlose Erfassung« in überarbeiteter Neuauflage (Fischer). Denn neue Wahrheiten sind offenbar. Edwin Black z.B. hat enthüllt, wie IBM den Bevölkerungs- und Rassenpolitikern im »Dritten Reich« die Technik zur maschinellen Datenauswertung lieferte (»IBM und der Holocaust«, Propyläen).
Inwieweit war die deutsche Statistik den braunen Machthabern, vor allem mit den Volkszählungen 1933 und 1939, zu Diensten? Diese Frage sollte die Historikerin Jutta Wietog klären. Bei ihren Recherchen in deutschen Archiven fand sie keine Belege für die »immer wiederkehrende Behauptung«, aus den Daten der mit der Volkszählung am 17. Mai 1939 verbundenen Sonderaufnahme der Juden sei eine reichsweite Judenkartei angelegt worden, die Grundlage für die Deportationen ab 1940/41 gewesen sei. »Eine derartige Verstrickung der amtlichen Bevölkerungsstatistik in den Holocaust hat sich aus den Dokumenten nicht ergeben.« Die Deportationslisten seien nach den vom Reichsverband der Juden abgeforderten bzw. von örtlichen jüdischen Gemeinden gemachten Angaben aufgestellt worden.
Das Aufatmen des obersten Statistikers des Landes, während der Pressekonferenz zur rechten Seite der Historikerin sitzend, war nicht zu überhören. Non liquet?
Aus den Akten der Volkszählung von 1939 sind zwei große Karteien angelegt worden, wie Wietog im Folgenden weiter ausführte: eine Ausländerkartei und eine »Kartei der deutschen Reichsangehörigen fremder Volkszugehörigkeit«. Diese wurden dann in die so genannte Publikationsstelle Berlin-Dahlem verbracht. Hier sind sie mit anderen Unterlagen zu einer großen Volkstumskartei zusammengestellt worden, die dann Grundlage für die »Germanisierung« des sudetendeutschen Raumes und der »Ostgebiete« war.
Kein Grund also zum Aufatmen. Umschrieb doch »Germanisierung« jene gewaltsame Landnahme, die den polnischen bzw. tschechischen Bauern und Landarbeiter vom Acker und zur Zwangsarbeit trieb, um einer deutschen Familie eine »Scholle« zu schenken. Sie ging einher mit der »Liquidierung« der polnischen Intelligenz. Sechs Millionen ermordete Polen - wiegen sie weniger als die unter dem Begriff Holocaust subsummierten sechs Millionen Juden (darunter mehrheitlich Polen)? Natürlich nicht, antwortete Hahlen auf die ND-Frage. Er räumte ein, dass die im Zuge der Volkszählung von 1939 angefertigten Ergänzungskarten mit Angaben über Abstammung und Vorbildung, aus denen hervorging, wer Jude war, in die Gemeinden zum Abgleich mit den Melderegistern gegeben wurden. Es könne nicht ausgeschlossen werden, so Hahlen, dass diese vor Ort der Gestapo und NSDAP zugänglich waren und so »mittelbar diese Daten für die Judenverfolgung genutzt wurden«. Er betonte jedoch auch, »damit kein Missverständnis entsteht«, dass Statistik »immer die Sammlung und Aggregation anonymisierter Daten bedeutet, nichts mit namentlicher Erfassung zu tun hat«. Das Selbstverständnis der Profession sei aber in der NS-Zeit mitunter durchbrochen, der Grundsatz der statistischen Zweckbindung und des Statistikgeheimnisses zuweilen ignoriert worden; die amtliche Statistik habe sich missbrauchen lassen. Wietog bestätigte, dass die Reichsstatistiker im System eingebunden waren und dazu beitrugen, dass es »funktionierte, wie es praktisch alle staatlichen Einrichtungen der damaligen Zeit taten«.
Missbraucht, verstrickt, mitschuldig oder schuldig? Ist eine Kategorisierung historischer Verantwortung möglich? Wo beginnt die Relativierung? Genügt es, wenn das Statistische Bundesamt sich nur mit dem Reichsamt und den Volkszählungen auseinandersetzt? Ist nicht vielmehr das Tun und Lassen der gesamten Zunft in der gesamten NS-Zeit zu reflektieren. Das Ämterkarrussell drehte sich auch damals rasant. Mitarbeiter des Reichsamtes wechselten nicht nur an andere statistische Ämter, sondern auch zum Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, zum Auswärtigen Amt (AA), zum Rassenpolitischen Amt der NSDAP etc., wo sie fleißig »bevölkerungspolitische Maßnahmen« erarbeiteten. Dies bestätigte Wolfram Fischer, Historiker an der FU Berlin. Er skizzierte Biografien, so die des Friedrich Burgdörfer, der vom Reichsamt 1939 in den Präsidentensessel des Bayerischen Statistischen Landesamtes wechselte und für das AA eine Studie zur »Umsiedlung« der Juden nach Madagaskar schrieb; oder Richard Korherr, ebenfalls aus dem Reichsamt, seit 1940 Inspekteur bei Himmler, für den er Berichte über die »Endlösung« verfasste. Zu ergänzen wären Fischers Bemerkungen mit dem Bekenntnis des damaligen Präsidenten der Deutschen Statistischen Gesellschaft, Friedrich Zahn: »Schon ihrem Wesen nach steht die Statistik der nationalsozialistischen Bewegung nahe... Sie ist nicht mehr bloß quantitative Bevölkerungspolitik, sie hat sich zur qualitativen und psychologischen Bevölkerungspolitik entwickelt.«
Es gibt keine anonyme Schuld. Statistiker halfen bei der Registrierung von »Zigeunern«, »Asozialen«, »Erbkranken«. Unschuldiges anonymisiertes Material? Behördenpflicht? Aly und Roth zeigten in ihrem Buch, wie aus Menschen »Karteiträger« wurden, wie eine bürokratische Abstraktion sie entmenschlichte und zum Tode verurteilte: »Jede Marsch- und Arbeitskolonne existierte zunächst als Zahlenkolonne, jeder Vernichtungsaktion ging die Erfassung voraus, die Selektion an der Rampe beendete die Selektion auf dem Papier.« - Non liquet? Wohl kaum.

Jutta Wietog: Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus. Duncker & Humblot, Berlin 2001. 301S., br., 148DM.

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