Bedrohliche Klausel

  • Sabine Lösing
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Autorin ist Europaabgeordnete der LINKEN und unter anderem Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten.
Die Autorin ist Europaabgeordnete der LINKEN und unter anderem Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten.

Die kürzlich gefällte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, zur »Abwehr« von Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen Militäreinsätze im Inland für grundgesetzkonform zu erklären, hat - vollkommen zurecht - viel Kritik hervorgerufen. Übersehen wird dabei aber leider, dass derzeit auf EU-Ebene eine ähnlich dammbruchartige Entwicklung abläuft.

Ausgangspunkt ist einmal mehr der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon. Denn die in Artikel 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthaltene »Solidaritätsklausel« öffnet faktisch Militäreinsätzen im europäischen Inland Tür und Tor. Konkret heißt es darin: »Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, (…) um im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.«

Geradezu euphorisch begrüßte der Chef des EU-Militärstabs Henri Bentégeat die hieraus entstehende Möglichkeit, dass »im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats militärische Mittel eingesetzt werden können«. Aus diesem Grund mahnte Bentégeat bereits im Mai 2011 an: »Wir müssen sehr bald spezielle Überlegungen über die Umsetzung der Solidaritätsklausel anstellen. Die Einzigartigkeit dieser Klausel besteht ja darin, dass sie innerhalb der Grenzen der Europäischen Union zur Anwendung kommt.«

Genau hiermit ist man derzeit in Brüssel beschäftigt: Noch in diesem Jahr soll ein gemeinsamer Bericht der EU-Kommission und der Hohen Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik die Bestimmungen der Solidaritätsklausel präzisieren. Berücksichtigt werden sollen dabei auch die Vorschläge des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments. Hierfür zirkuliert gegenwärtig ein Berichtsentwurf des sozialdemokratischen EU-Abgeordneten Ioan Mircea Paşcu, der nun nach Ende der Sommerpause verabschiedet werden soll.

Bei näherer Betrachtung fällt vor allem ein Aspekt des Papiers ins Auge: Die nahezu babylonische Vielfalt an möglichen »Bedrohungen«, die zu einer Anwendung der Solidaritätsklausel führen könnten. So ist etwa die Rede von »Angriffen im Cyberspace«, »Pandemien«, »Energieknappheiten«, »Bioterrorismus« oder auch von »Überflutungen«. Allerdings wird dabei betont, hierbei handele es sich lediglich um ausgewählte Beispiele. Was fehlt sind konkrete Angaben, was eigentlich nicht in den Zuständigkeitsbereich der Solidaritätsklausel fällt. Darüber schweigt sich der Bericht - wie auch alle anderen bisherigen Stellungnahmen zum Thema - aus. Dieses »Versäumnis« scheint durchaus beabsichtigt zu sein, wenn es im Entwurf heißt: »Was die Definition der Arten von Angriffen und Katastrophen anbelangt, die zur Anwendung der Klausel führen könnten, sollte eine ausreichende Flexibilität gewährleistet sein.«

Angesichts dieser »Flexibilität« - sprich: Beliebigkeit - ist es besonders Besorgnis erregend, dass etwa eine Studie des renommierten Swedish Institute of International Affairs wie selbstverständlich zu dem Ergebnis gelangt, auch »soziale Unruhen« seien eine vom Menschen verursachte Katastrophe, die in der Logik der Solidaritätsklausel zum Einsatz von Militär führen könnte.

Angesichts der dramatischen Verwerfungen, die die Wirtschafts- und Finanzkrise in vielen Mitgliedsländern der EU anrichtet und gegen die der Protest der Betroffenen zunimmt, ist es zumindest vorstellbar, dass die Solidaritätsklausel im schlimmsten Fall auch und gerade für ein solches Szenario entwickelt worden ist.

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