Der Geist in der Materie
Warum passen mathematische Theorien und Formeln so gut auf die Wirklichkeit?
Für manche ist die Mathematik die edelste und reinste Form des Denkens. Andere halten sie schlicht für eine brotlose Kunst. Selbst der bekannte englische Zahlentheoretiker Godfrey Harold Hardy war stolz darauf, in seinem Fach nie etwas Nützliches gemacht zu haben. »Für die Welt hatte keine meiner Entdeckungen - ob im Guten oder Bösen - je die geringste Bedeutung, und daran dürfte sich auch künftig nichts ändern«, schrieb er 1940. Ein Irrtum. Wenige Jahre später wurden ausgehend von der Zahlentheorie raffinierte Techniken zur Verschlüsselung geheimer Nachrichten entwickelt. Das rief in den USA sogar die Sicherheitsbehörden auf den Plan. So versuchte etwa das FBI zu verhindern, dass bestimmte Arbeiten zur Zahlentheorie, die einen direkten Bezug zur Kryptografie hatten, in öffentlichen Publikationen für jedermann zugänglich waren.
Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Viele Dinge des modernen Lebens beruhen auf der Vorarbeit von Mathematikern, die häufig selbst überrascht sind vom praktischen Nutzen ihrer Formeln und Sätze. Nehmen wir nur die nichteuklidische Geometrie, eine im 19. Jahrhundert unter anderem von Carl Friedrich Gauß entwickelte widerspruchsfreie mathematische Theorie, in der das euklidische Parallelenaxiom nicht gilt. Stattdessen können hier durch einen Punkt P außerhalb einer Geraden g zwei oder mehr zu g parallele Geraden verlaufen. Oder gar keine. Jahrzehnte blieben die Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie unbeachtet - bis Albert Einstein sich ihrer bediente, um im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie die Krümmung der kosmischen Raumzeit zu beschreiben.
Oder denken wir an Gottfried Wilhelm Leibniz, der 1703 den binären Zahlencode schuf, ohne den es heute keinen Computer gäbe. Beim Versuch, die Wurzel aus einer negativen Zahl zu definieren, wurden im 16. Jahrhundert die komplexen Zahlen erfunden, mit denen zu rechnen selbst Mathematiker zunächst für Spielerei hielten. Das Erstaunen war daher groß, als man feststellte, dass solche »Spielereien« zu praktisch nützlichen Resultaten führen. Heute gehören komplexe Zahlen zum Werkzeug jedes Ingenieurs, der etwa einen Elektromotor berechnen oder die Dynamik strömender Flüssigkeiten mathematisch elegant darstellen möchte.
»Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben«, hatte Galileo Galilei einst behauptet, obwohl ihm und anderen Naturforschern die Gründe dafür natürlich verborgen blieben. Und so wird eine Frage bis heute immer wieder gestellt: Wie ist es möglich, dass mathematische Formeln, die dem menschlichen Geist entsprungen sind, so gut auf die Wirklichkeit passen? Zu antworten, dass Gott die Welt nach einem mathematischen Plan erschaffen habe, hilft hier ebenso wenig weiter wie der Hinweis auf die biologische Angepasstheit des Gehirns. Denn welchen Überlebensvorteil hätte die abstrakte Mathematik unseren frühen Vorfahren bescheren sollen? Hält man sich dagegen an die Evolutionäre Erkenntnistheorie, und vieles spricht dafür, dies zu tun, dann ist die Fähigkeit zur mathematischen Erfassung der Wirklichkeit nur ein Nebenprodukt der menschlichen Gehirn- und Geistesentwicklung, das erst auf einer fortgeschrittenen Kulturstufe seinen Schöpfern zum Nutzen gereichte.
Eine andere Auffassung vertrat bekanntlich der deutsche Philosoph Immanuel Kant. Der Mensch, so meinte er, lese die mathematische Ordnung in die Natur hinein und nicht aus ihr heraus. Für eine solche Sichtweise spricht, flüchtig betrachtet, dass zwischen Mathematik und Wirklichkeit keine eindeutige Zuordnung besteht. Das heißt, für dieselben physikalischen Phänomene gibt es häufig verschiedene mathematische Darstellungen. So kann man zum Beispiel die Quantenmechanik im Heisenberg- oder Schrödingerbild mathematisch beschreiben, ohne dass sich dadurch irgendetwas am physikalischen Gehalt der Theorie ändern würde.
Während Galilei noch hoffte, die Physik gänzlich durch Mathematik ersetzen zu können, lehrt die moderne Wissenschaft, dass auch mathematisch formulierte Theorien lediglich Modelle sind, die nicht die gesamte Komplexität der Wirklichkeit abbilden, sondern eine Wirklichkeit unter Idealbedingungen. So gelten etwa die berühmten Galileischen Fallgesetze streng genommen nur dann, wenn man vom Luftwiderstand absieht. Im Grunde passe der Mensch im Experiment die Natur an seinen Geist an, erklärt der Hamburger Mathematiker Claus Peter Ortlieb mit Blick auf Kant und folgert: »Lassen sich die im Modell unterstellten Idealbedingungen nicht oder nur unzureichend herstellen, bleiben die zu beobachtenden ›Naturgesetze‹ letztlich mathematische Fiktionen.« Am Anfang steht laut Ortlieb also die Hypothese, dass die Wirklichkeit mathematischen Gesetzen folgt. Und erst dies vorausgesetzt, beginnt in der Wissenschaft die Suche nach einer mathematischen Struktur, die mit den empirischen Daten übereinstimmt. Häufig ist dieses Bemühen von Erfolg gekrönt, was für Ortlieb aber nicht heißt, dass dies immer und überall so sein muss. So gesehen wäre die Mathematik nur eine, wenngleich die effektivste Methode zur Beschreibung der Wirklichkeit, die jedoch auch Bereiche enthält, in denen man mit Mathematik allein nicht weit kommt.
Dennoch: Wer annimmt, dass sich die Welt großenteils mathematisch darstellen lässt, wird kaum leugnen können, dass sie auch objektiv eine Art mathematische Grundstruktur aufweist, die zu enthüllen, als eine der größten und schwierigsten Herausforderungen der Wissenschaft gilt.
Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger vergleicht die Tätigkeit des Mathematikers darüber hinaus mit der eines Künstlers: Beiden gehe es nicht vordergründig um praktische Nützlichkeit. Sie seien vielmehr darauf aus, ihren Zeitgenossen und der Nachwelt elegante und ästhetisch ansprechende geistige Schöpfungen zu hinterlassen. Warum diese im Falle der Mathematik nachträglich so gut auf die Realität passen, wird wohl auf ewig ein Mysterium bleiben. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Mathematik eine der eindrucksvollsten menschlichen Kulturleistungen ist - und ein Motor dessen, was man üblicherweise Fortschritt nennt.
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