Das Methusalem-Projekt
Nicht Bedrohung, sondern Chance: Bäume dürfen alt werden
Das Methusalem-Projekt? Noch nie etwas davon gehört? Keine Ahnung, was das ist? Nun, es ist ein Forstprojekt, unter anderem im Land Brandenburg, wo es mittlerweile ins neunte Jahr geht. Pro Hektar Landeswald werden fünf Bäume gut sichtbar mit einer Plakette markiert, so dass Waldarbeitern und -besuchern gleichermaßen ins Auge sticht: Diese Bäume sind Auserwählte. Sie sind auserwählt, alt zu werden, uralt wie Methusalem. Keine Axt, keine Säge, das Alter selbst wird sie eines Tages fällen, und noch, wenn sie umgefallen, gestürzt sind, werden Insekten und Pilze sie besiedeln, bis sie zerfallen und zerbröseln, ihren jüngeren Gefährten als Humus natürliche Nahrung spenden ...
Wir leben im Zeitalter der Bilder, der einprägsamen Metaphern. Wer auch nur einen Augenblick glaubte, das Projekt Methusalem sei eine Verbeugung vor dem Alter, der sollte es jetzt schon besser wissen: Es ist schlichtes Zweckdenken. Was den Wert des Projektes nicht mindert - beginnt mensch langsam zu begreifen, dass eine intakte Natur ihm nützt?
Unternehmen wir einen Waldspaziergang. Denn darauf läuft es hinaus: Das Methusalem-Projekt ist das werbewirksame Aushängeschild für eine moderne Art des Waldbaus, und die studiert man am besten an Ort und Stelle.
Die Führung übernimmt freundlicherweise Oberforstrat Claus-Rüdiger Seliger. Seit Brandenburg Ende 2011 mit mehr oder weniger enthusiasmierten Beteiligten oder Betroffenen eine »Landesforststrukturreform« abschloss, lautet Seligers Dienstfunktion: Leiter nachhaltige Nutzung der Landeswaldoberförsterei Peitz. Seligers Zuständigkeitsbereich erstreckt sich von Lieberose im Norden bis zur sächsischen Grenze im Süden. Darin verstreut liegen rund 100 000 Hektar Wald, drei Viertel davon befinden sich in privatem oder kommunalem Besitz. Das restliche Viertel gehört dem Land und ist Seligers Obhut anvertraut.
Den großen Rahmen für alle Eigentumsformen, erklärt uns der Oberforstrat, ziehe das Landeswaldgesetz: Es erlegt allen Eigentümern als erste Pflicht auf, den Wald zu erhalten. Doch während das Gesetz erlaube, privaten Wald vorwiegend erwerbswirtschaftlich zu nutzen, habe der Landeswald vor allem Gemeinwohlleistungen zu erbringen - dem Schutz und der Erholung zu dienen. Eine wirtschaftliche Nutzung gehöre ebenfalls dazu, die sei, wenn auch nicht zu vernachlässigen, aber doch nur nachrangig.
Die größte Fläche Landeswald in Seligers Verantwortlichkeit konzentriert sich auf dem Gelände des ehemaligen Truppenübungsplatzes der Sowjetarmee zwischen Lieberose und Peitz. Konzipiert hatte den Platz die Waffen-SS, die dort 1942 begann, ihren Groß-Truppenübungsplatz »Kurmark« errichten zu lassen - von Häftlingen des KZ-Außenlagers Lieberose. In Betrieb nehmen konnte sie ihn nicht mehr, nach Kriegsende nutzten ihn statt dessen die sowjetischen Befreier für Übungen mit chemischen Waffen, Luft-Boden-Raketen, Artillerie und Panzern.
Dorthin brechen wir nun auf. In ein 25 500 Hektar großes Areal, so groß wie ein Drittel von Berlin. Unterwegs erzählt Seliger Geschichten. Wie die vom toten Seeadler, den er auf dem einstigen Panzerrollfeld, der Lieberoser »Wüste«, fand und den er präparieren ließ. »An Adlern mangelt es uns hier nicht«, sagt er, »die Art ist sowieso im Aufwind. Gestorben ist der alte Junge wahrscheinlich an innerartlichem Stress, er hat wohl keinen Horst gefunden, die waren alle schon besetzt.« Oder er erzählt die Geschichte von der Munition, die die sowjetischen Truppen zurückließen. Da die Bundesrepublik alle errechneten Abzugskosten übernahm, hätten Offiziere auf diese Art wohl etwas für sich herausschlagen können. »Von 400 000 Tonnen Munition in Brandenburg wurden nur 300 000 abtransportiert.« Noch heute, bevor man aufforste, suche man das Gelände ab und stoße immer noch auf Verstecke. »Keine Sorge«, sagt Seliger, »dort, wo wir hinfahren, ist es sicher. Dort befand sich die Wohnsiedlung, und dort hätten sie sich wohl kaum selbst einer Gefahr ausgesetzt.«
Von der einstigen Wohnsiedlung der sowjetischen Truppen sehen wir nichts mehr. Wo Kasernen und Häuser standen, sind nur zwei Jahrzehnte nach dem Abzug wieder Kiefern aufgeschossen. So schnell geht das. Seliger nennt die Kiefer eine »Pionierart«: Sie besiedele trockene Flächen sozusagen in Windeseile. Aber sie sterbe auch schnell ab, sie habe viele natürliche Feinde. Schädlinge wie der Kiefernspanner, der Kiefernspinner, der Kiefernschwärmer, die Forleule oder die Buschhornblattwespe können ihr gefährlich werden. Deshalb bevorzuge man heute gegenüber der Monokultur Mischwälder mit Traubeneichen, Birken, Erlen und Ebereschen, in Kesselmooren aus Fichten, Tannen und Buchen. Und nicht nur verschiedene Arten, auch unterschiedlich alte Bäume sollen sich in den Wäldern mischen … Seliger möge uns unsere Hoffart verzeihen: Das soll eine neue Erkenntnis sein? Sie hat einen Bart, der ellenlang ist!
Da nun Seligeres Jagdhündin Waldfee endlich ins Unterholz preschen darf, gibt ihr Herr uns einen Crashkurs in regionaler Forstgeschichte. Er kennt sich erstaunlich gut damit aus, obwohl er aus dem Münsterland stammt. Seit zwanzig Jahren lebt er in Brandenburg, in jenem östlichen Bundesland, in dem er sich nach dem Studium der Forstwirtschaft in Göttingen als junger Forstassesor wiederfand. Ein Schock anfangs, dann eine Liebe. Er hat die Forstschule Finkenkrug und die Oberförsterei Lieberose geleitet, bevor es ihn nach Peitz verschlug.
Was man über Waldbau weiß, reagiert er auf unseren Einwurf, werde nicht immer gleich umgesetzt. Das letzte Wort hätten dabei die wirtschaftlichen Verhältnisse. Er führt uns zurück in eine Zeit, in der Holz noch der einzige verfügbare Bau- und Brennstoff war - wer hätte damals einen Gedanken auf die Gesundheit des Waldes verschwendet? Bis 1800, so Seliger, hätten sich viele Waldflächen dank Kahlschlags in Heidelandschaften verwandelt, wie die bei Drachhausen, Lieberose und Straupitz.
Friedrich II. sei es gewesen, der als Erster in Preußen seinen Wäldern besonderen Schutz angedeihen ließ. Schon am 3. Oktober 1754 hatte der Preußenkönig verfügt, dass »wir« die »grösstesten (Bäume. d. R.) Exactitude observiret wissen wollen«. Eine Regelung, die andere Waldbesitzer wie die Grafen von Schulenburg und von Houwald übernahmen. Dies sei die Geburtsstunde des planmäßigen Aufforstens gewesen. Aber wie forstete man auf? Indem man die Wälder auf einer Karte in so viele Kästchen einteilte, wie es Jahre brauchen würde, bis - holzte man heute den Bestand auf der Fläche eines der Kästchen ab und im Jahr darauf den auf der des nächsten - der Wald wieder nachgewachsen wäre. So konnte man die Wälder erhalten, setzte freilich immer nur gleichaltrige Pflanzungen, anfällig für Krankheiten. »Das war ein quantitativer Ansatz«, sagt Seliger, »lange noch kein qualitativer.« Spätere Jahrhunderte boten dann die Möglichkeit, Schädlinge und Krankheiten biologisch und chemisch zu bekämpfen, wovon man reichlich Gebrauch machte.
Ein Zeitsprung in die DDR. Deren erste Waldbewirtschaftungsrichtlinie sei »völlig naturnah« gewesen. Die großen Reparationshiebe aber, die allein die DDR leisten musste, und der eigene wachsende Holzbedarf hätten schon bald dazu geführt, dass eine zweite Richtlinie die erste deutlich einschränkte. Ab den 70er Jahre dann habe man größere Kahlschläge mit geschlossener Wiederaufforstung mit nur einer Baumart vorgenommen. Obwohl man es besser wusste. Und obwohl viele Oberförstereien gerade rund um Eberswalde dazu aufgefordert waren, ihre Reviere naturnah zu halten. - Ich muss an an Richard Sögding denken, Revierförster in Eiserbude, den wir 1986 besuchten und der schon damals nachhaltig wirtschaftete. Der schon damals einige Bäume, wenn der Specht darin Höhlen baute, in den Himmel wachsen ließ … Natürlich lieferte Sögding auch Harz. Seliger weiß auch um dieses Kapitel: Rein aus wirtschaftlicher Not sei bis zum Ende der DDR geharzt worden - obwohl ein Baum spätestens zehn Jahre nach Abschluss der Harzung entwertet war. Und obwohl die Produktion nur einer Tonne Kiefernharz 2200 DDR-Mark kostete und der Preis auf dem Weltmarkt lediglich bei 800 lag. »Nach der Wende war damit sofort Schluss, noch Jahre später haben wir die alten Pötte eingesammelt«, beendet Seliger den Geschichtskurs.
Zwischen den Kiefern haben sich kleine Birken und Eichen angesiedelt. So soll es sein. Seliger ist es, der entscheidet, ob und wann, damit sie mehr Platz bekommen und sie sich entfalten können, eine Kiefer herausgenommen wird. Nach und nach wird sich die Monokultur zu einem Mischwald auswachsen, mit durchmischter Altersstruktur. Der Wald, den wir sehen, ist nicht gefegt, es gibt natürlichen »Nachwuchs« und Totholz. Einige Kiefernstämme sind mit grüner Farbe gekennzeichnet. Nein, keine Methusalems. Doch auch sie sind auf absehbare Zeit von der Ernte ausgenommen. Denn in ihren alten, rissigen Stämmen versteckt sich vielerlei Getier, unter anderem Fledermäuse. Und wo Fledermäuse sich niederlassen, gefällt es auch anderen Arten, Holzbesiedlern und Holzzerstörern, die für eine hohe Biodiversität sorgen.
Da! Endlich, ein echter Methusalem! Einer, der es werden soll. Noch ist er ein junger Spund. In vierzig, fünfzig Jahren vielleicht wird er ein biblisches Alter erreichen. Seliger sagt: »Im Kiefernwald ist so ein Alter gar kein Problem. Da gibt es solche Bäume immer.« Doch als Ausrufezeichen, das gesetzt wird für nachhaltiges Wirtschaften, erfülle das Projekt seine Funktion. Gibt es auch private Waldbesitzer, die sich am Projekt beteiligen? »Sie sind eingeladen«, sagt Seliger, »und viele nehmen die Einladung an. Sehen Sie, wenn ich in meinem Wald fünf krüpplige Eichen habe, die mir, würde ich sie ernten, sowieso nichts einbrächten, dann markiere ich sie als Methusalems, kassiere dafür noch eine Prämie und mache eine gutes Geschäft.« Das letzte Wort haben auch hier die wirtschaftlichen Verhältnisse.
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