Die beschlagnahmte Raketen-Formel

Vor 100 Jahren legte Konstantin Ziolkowski den Grundstein zur Raumfahrtwissenschaft

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Geschichte kennt viele Beispiele von Entdeckungen, die in ihrer Zeit verkannt oder belächelt wurden. Auch den Begründern der modernen Raumfahrttheorie blieb diese bittere Erfahrung nicht erspart. Denn noch Anfang des 20. Jahrhunderts galt jeder, der Flüge zu fernen Planeten technisch in Erwägung zog, als Spinner oder Fantast. Befördert wurden diese Zweifel nicht zuletzt durch die großen Raumfahrtutopisten des 19. Jahrhunderts, die wie Jules Verne oder Kurd Laßwitz in ihren viel gelesenen Romanen und Erzählungen zum Teil weit über das hinausgingen, was Physik und Technik seinerzeit für möglich erklärten. Auf der anderen Seite waren es genau diese Schilderungen, die so manchen Forscher veranlassten, die kühne Vision eines interplanetaren Fluges auf das feste Fundament der Wissenschaft zu stellen. Der Erste, dem dies anerkanntermaßen gelang, war der russische Naturkundelehrer Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski. Hatte Jules Verne in seinem Roman »Von der Erde zum Mond« (1865) diese Reise noch mit einer tonnenschweren Kanonenkugel »bewältigt«, favorisierte Ziolkowski ein so genanntes Rückstoßgerät, dessen physikalische Theorie er zwischen 1896 und 1898 entwarf und im Frühjahr 1903 erstmals der Öffentlichkeit vorstellte. Leider geschah dies unter denkbar ungünstigen Umständen. Denn die Mai-Ausgabe der Zeitschrift »Nautschnoje Obosrenije« (Wissenschaftliche Rundschau), in der sein Artikel »Die Erforschung des Weltraums mit Rückstoßgeräten« enthalten ist, wurde nach dem rätselhaften Tod des Herausgebers von der zaristischen Polizei nahezu vollständig beschlagnahmt. Zwar gelangten einige Exemplare des Heftes in den Westen, nachweislich nach Deutschland. Doch auch dort nahm zunächst niemand Notiz von Ziolkowskis Ideen, die vielen ebenso fantastisch anmuteten wie die Geschichten eines Jules Verne. Denn zur selben Zeit, da die Gebrüder Wright in den USA mühsam ihre ersten Motorflüge absolvierten, betonte der russische Raumfahrtvisionär, dass der Vorstoß des Menschen ins Weltall nur mit Raketen möglich sei. Wobei er als Brennstoff flüssigen Wasserstoff und als Oxidationsmittel flüssigen Sauerstoff empfahl. (Diese Mischung wird noch heute in Raketen verwendet.) Ausgehend vom Impulserhaltungssatz der Mechanik konnte Ziolkowski zeigen, dass die Maximalgeschwindigkeit einer Rakete im kräftefreien Raum umso höher ist, je schneller die Verbrennungsgase nach hinten ausströmen und je weniger die leere im Verhältnis zur vollbetankten Rakete wiegt. Der mathematische Zusammenhang dieser Größen wird heute als Raketengrundgleichung bezeichnet. Da Raumfahrt für Ziolkowski stets bemannte Raumfahrt war, sah er sich frühzeitig mit der Frage konfrontiert, ob Leben unter kosmischen Bedingungen überhaupt möglich ist und wie der Organismus auf die Veränderung der Schwerkraft reagiert. Aus diesem Grund untersuchte er bereits 1876 in einer selbst gebauten Zentrifuge den Einfluss einer höheren Schwerebeschleunigung auf Küken und Schaben: »Das Gewicht der rötlichbraunen Küchenschabe habe ich um das 300fache vergrößert und das des Kükens um das 10-fache. Ich konnte danach nicht feststellen, dass ihnen die Versuche irgendwelchen Schaden zugefügt hätten.« Ziolkowski hegte keinen Zweifel, dass der Mensch auch unter veränderten Schwerkraftbedingungen zu überleben vermag und mithin fähig ist, fremde Planeten zu besiedeln. Davon zeugen nicht zuletzt seine wissenschaftlich-fantastischen Geschichten, in denen er beispielsweise beschreibt, wie eine internationale Forschergruppe im Jahr 2017 zum Mond und anschließend an die Grenze unseres Sonnensystems fliegt. In seiner Erzählung »Träume über Erde und Himmel« (1895) gebraucht er sogar das russische Wort »Sputnik« als Synonym für einen künstlichen Erdtrabanten. Nach langen Jahren des vergeblichen Ringens um Anerkennung wurde Ziolkowski nach der Oktoberrevolution damit gleichsam überhäuft. Als er 1921 planmäßig aus dem Lehrerberuf ausschied, erkannte ihm der Rat der Volkskommissare eine erhöhte lebenslange Rente zu. Überdies wurden seine klassischen Arbeiten zur Raketentheorie neu herausgegeben, in russischer Sprache zwar, doch versehen mit einem deutschen Vorwort. Denn 1923 war im Münchner Oldenbourg Verlag ein Aufsehen erregendes Buch mit dem Titel »Die Rakete zu den Planetenräumen« erschienen. Es stammte aus der Feder von Hermann Oberth, der als Gymnasialprofessor in Siebenbürgen lehrte und das Manuskript zunächst als Dissertation an der Universität Heidelberg eingereicht hatte. Dort jedoch wurde es mit der Begründung abgelehnt, dass sein Inhalt für Astronomen zu technisch, für Maschinenbauer zu fantastisch und für Mediziner jenseits der Realität sei. Gleichwohl waren die erste und zweite Auflage des Buches rasch vergriffen, so dass bereits 1929 eine dritte und erweiterte Fassung unter dem Titel »Wege zur Raumschiffahrt« erschien, die in Westeuropa hinfort als »Bibel der wissenschaftlichen Astronautik« galt. Eigenen Aussagen zufolge hatte Oberth die Raketengleichung und das Prinzip der Mehrstufenrakete selbstständig entdeckt. Dennoch erkannte er die Priorität Ziolkowskis und dessen Verdienste auf dem Gebiet der Raumfahrttheorie vorbehaltlos an. »Hätte ich Ihre hervorragenden Arbeiten früher gekannt«, schrieb er 1929 in einem Brief, »wäre ich jetzt mit meinen eigenen Arbeiten weiter fortgeschritten und hätte viel unnötige Arbeit gespart.« Den letzten Schritt von der Raumfahrttheorie zur Raketentechnik tat hingegen ein US-Amerikaner: Robert H. Goddard, der als Physikprofessor in Princeton zwischen 1909 und 1919 auf eigene Weise zu den Grundgesetzen der Raketendynamik gelangt war. Nach mehreren Fehlversuchen startete er am 16. März 1926 die erste Flüssigkeitsrakete der Welt, die von Benzin und Sauerstoff angetrieben wurde und eine Höhe von 12,5 Metern erreichte. Fünf Jahre später, am 14. März 1931, zündete Johannes Winkler in der Nähe von Dessau die erste europäische Flüssigkeitsrakete. Diese war 70 Zentimeter lang und 4,7 Kilogramm schwer und schoss fast 100 Meter in den Himmel. Kurz darauf zogen auch die Sowjets nach und gründeten in Moskau die »Gruppe zum Studium von Rückstoßbewegungen« (GIRD). In Zusammenarbeit mit Sergej Koroljow konstruierte Friedrich Zander hier das Triebwerk für die erste Flüssigkeitsrakete »GIRD-X«, die am 25. November 1933 eine Höhe von 80 Metern erreichte. Im Gegensatz zu Zander, der wenige Monate vor dem Start überraschend gestorben war, durfte Ziolkowski den Triumph seiner Ideen noch miterleben. Er wurde 88 Jahre alt und erlag am 19. September 1935 einem Magenkrebsleiden. Auf seinem Grabmal in Kaluga stehen die prophetischen Worte: »Nicht ewig bleibt die Menschheit auf der Erde.« Veranstaltungshinweis: Am 26. April 2003 findet in der Berliner Archenhold-Sternwarte das VII. Berliner raumfahrthistorische Kolloquium zum Thema »25. Jahrestag des ersten deutschen Weltraumfluges - 100 Jahre Raumfahrtwissenschaft« statt. Beginn: 10 Uhr. Der Eintritt ist frei, Interessenten sind herzlich eingeladen.

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