Reparieren wie die Natur

Auch schwache Röntgenstrahlen schädigen Körperzellen

  • Wolfgang Kappler
  • Lesedauer: 3 Min.
Viel Röntgenstrahlung richtet in Zellen viel Schaden an, wenig Strahlung schadet folglich dem Körper auch weniger. Auf diesem Glaubenssatz aufbauend hat die Medizin in den letzten Jahren immense Anstrengungen unternommen, um ihre Untersuchungsverfahren immer strahlungsärmer zu machen.
Ganz so einfach scheint die Angelegenheit wohl nun doch nicht zu sein, wie Biophysiker am Universitätsklinikum Homburg heraus gefunden haben. Denn seltsamerweise regenerieren sich gerade schwach bestrahlte Zellen langsamer oder überhaupt nicht. Röntgenstrahlen kommen auch natürlicherweise in unserer Umwelt vor, und keiner ist vor ihnen so richtig sicher. Bekommt eine Zelle direkte Strahlung ab, wird sie geschädigt. Die gravierendsten Schäden zeigen sich dann im Zellkern, wo der Doppelstrang der DNS aufbricht. Das bedeutet, dass die Zelle bei ihrer nächsten Teilung möglicherweise nicht alle Erbinformationen weitergeben kann. Da solches von der Evolution nicht gewollt ist, hat sie den Zellen die Fähigkeit zur Selbstreparatur mit auf den Weg gegeben. Wird diese jedoch stümperhaft ausgeführt, schleichen sich Fehler in die Erbinformation ein. Die Zelle ist entartet und birgt den Keim für Krebs in sich. Wäre es also da nicht besser, auf eine Reparatur zu verzichten und der Zelle den Befehl zur Selbstzerstörung zu erteilen, um unnötige Risiken zu vermeiden? Eben dies hat sich die Evolution offensichtlich auch gedacht. Bei Strahlenschäden, die nur hin und wieder auftreten und nur wenige Zellen betreffen, verzichtet der Körper anscheinend auf die Reparatur und gibt schadhaften Zellen den Laufpass. Solange es sich um einzelne Schädigungen handelt, mag das auch funktionieren. Bei stärkerer Bestrahlung aber und entsprechend größeren Schädigungen wird er sich von solchen Zellen allerdings nur ungern trennen wollen. Denn was nützt im Extremfall eine Lunge mit ausschließlich intakten Zellen, deren Anzahl zur Aufrechterhaltung der Organfunktion aber nicht mehr genügt? Stattdessen wird der Körper reparieren, auch auf die Gefahr hin, dass dann möglicherweise Krebs entsteht. Solche Gedankenspiele stehen am Ende der vorläufigen Untersuchungen der Homburger Biophysiker Prof. Markus Löbrich und Dr. Kai Rothkamm. Sie haben das gemacht, was den guten Wissenschaftler auszeichnet, haben nicht spekuliert, sondern nachgeschaut und nachgezählt. Im Labor haben sie Bindegewebszellen aus der Lunge und der Haut unterschiedlich starker Röntgenstrahlung ausgesetzt und beobachtet, was mit den Zellen passiert. Ausgehend von der bisherigen Lehrmeinung hätte es so sein müssen, dass die Schäden in Gewebe, welches eine hundertfach geringere Strahlendosis abbekommen hatte auch hundert Mal geringer hätten sein müssen. Das war aber nicht der Fall. »Die Zahl von Brüchen in der DNS war in allen Fällen die gleiche«, zeigt sich Rothkamm überrascht. Aber: Im Gewebe, das stärker bestrahlt war, in dem also mehr Zellen geschädigt wurden, setzten unmittelbar Reparaturmechanismen ein, so dass nach 24 Stunden die meisten DNS-Brüche bereits wieder beseitigt waren. Dagegen setzte das von der Natur vorgegebene Reparaturprogramm im schwach bestrahlten Gewebe erst später oder überhaupt nicht ein. Fazit: Schwach bestrahltes Gewebe ist am Ende mehr geschädigt und damit müssen die Lehrbücher umgeschrieben werden. »Jetzt wollen wir zunächst heraus finden, ob es einen Strahlenschwellenwert gibt, ab dem die Reparatur einsetzt«, sagt Rothkamm. Danach soll geklärt werden, ob das Phänomen auch im Gesamtorganismus des Menschen auftritt. »Dazu müsste Patienten vor und nach einer Bestrahlung Blut abgenommen werden, um zu sehen, was mit den Zellen passiert, und wie sich das Immunsystem verhält«, erklärt Löbrich. Wichtig sind diese Untersuchungen deshalb, um herauszufinden, ob das Tumorrisiko bei schwacher Röntgenbestrahlung steigt. Denn immerhin bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder behält der Körper die nicht reparierten Zellen und nimmt das Risiko von Krebs in Kauf, oder er leitet die Zerstörung und Entsorgung der geschädigten Zellen ein. Rothkamm: »Das heißt, entweder ist beim Einsatz von schwachen Strahlen alles viel schlimmer, als bis lang angenommen, oder es passiert gar nichts. Das müssen wir nun klären«.

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