Das Phänomen »Harry Potter«

Heute kommt der fünfte Band von Joanne K. Rowling in deutscher Übersetzung in den Handel

  • Carsten Gansel
  • Lesedauer: 10 Min.
Was bringt es, ein Buch um Mitternacht zu kaufen statt am nächsten Morgen? Eine müßige Frage für Harry-Potter-Fans. Denn viele ließen sich die sehnlich erwartete deutsche Ausgabe des fünften Bandes »Harry Potter und der Orden des Phönix« bereits zur Geisterstunde ins Haus liefern. Zauberei oder nicht, die Post erklärte sich für einen Aufpreis bereit, zwischen 0 und 2 Uhr nachts Bücher auszutragen. Wer das magische Datum, den 8. November, lieber mit Gleichgesinnten begehen wollte, hatte bei nächtlichen Lesungen vielerorts Gelegenheit dazu. Und wer um diese Zeit im Bette lag, konnte ruhig schlafen. Die Auflage ist hoch, die Buchhandlungen haben sich eingedeckt, in der Hoffnung, die Jahresumsätze aufzubessern. Die Kenner haben natürlich längst das englische Original gelesen, das sich - bislang wohl einmalig - seit Beginn der Auslieferung auf den Bestsellerlisten in Deutschland befindet. Insofern ist mit dem lang erwarteten Band nicht nur in Hinblick auf die weltweite Werbung eine neue Qualität erreicht, sondern die über »Harry P.« in Gang gebrachte »Leseförderung« erstreckt sich jetzt auch auf die erste Fremdsprache: Englisch. Der fünfte Band setzt denn auch mit Harry ein, der einige Wochen der Ferien im Privat Drive zugebracht hat, ohne etwas von seinen Freunden und darüber zu hören, was nach den schrecklichen Ereignissen am Ende des letzten Schuljahres passiert ist. Stattdessen wird Harry in der Muggelwelt vor eine neue Probe gestellt. Auf dem Nachhauseweg werden er und sein Cousin Dudley - der hat sich inzwischen zum Chef einer Jugendgang gemausert - lebensgefährlich von zwei Dementoren angegriffen. Harry nutzt seinen Zauberstab und kann die fantastischen Wesen durch einen besonderen Spruch vertreiben. Eine Nachbarin, eigentlich eine Hexe, ist zum Glück Zeugin des unerhörten Ereignisses. Sie wird später für Harry sprechen, der wegen des Vorfalls von der Zauberschule Hogwarts verwiesen werden soll. Er hat gegen ein strenges Gesetz verstoßen: im Land der Muggles darf bekanntlich nicht gezaubert werden. Entsprechend wird Harry von einer Garde erfahrener Zauberer abgeholt und in das Elternhaus von Sirius Black gebracht, wo Voldemort-Gegner den »Orden des Phönix« gegründet haben. Harry ist wieder einmal in Gefahr, zudem glaubt ihm keiner, dass Lord Voldemort zurück ist, der damals seine Eltern umgebracht hat. Schlimmer noch, Harry wird zum Lügner und Aufschneider gestempelt . Medien wie der »Daily Prophet« setzen ihn in ein falsches Licht, und das Ministerium für Magie will die Rückkehr Voldemorts vertuschen. Die Anhörung im Ministerium aber geht schließlich gut für Harry aus. Was offen bleibt? Keiner weiß, wie die Dementoren in die Muggel-Stadt gekommen sind. Dazu wäre nämlich ein Befehl aus dem Ministerium notwendig gewesen. Das lässt vermuten: Das Ministerium ist von Voldemort-Anhängern unterwandert! Geschickt werden von J. K. Rowling erneut »Leerstellen« gesetzt und einmal mehr Spannung erzeugt. Parallelen zur »wirklichen Wirklichkeit« der (jungen) Leser sind beständig möglich, und mit Sicherheit funktioniert die »Perspektivenübernahme«. Angespielt wird beispielsweise auf die Macht der Medien ebenso wie auf die jungen Leuten durchaus vertraute Situation, dass ihnen keiner der Erwachsenen glauben will. Dass »mächtige Instanzen« - in diesem Fall das Zauberministerium - Methoden nutzen, um ihr Bild von Wirklichkeit zu propagieren, ist tagtäglich erlebbar. Und wie leicht man vom Helden zum Außenseiter werden kann, diese Erfahrung hat jeder schon gemacht. Die Leser können also mit Harry mitleiden, der nach der Rückkehr ins Internat von den anderen als vermeintlicher Lügner geschnitten wird. Zudem muss er mit der Enttäuschung fertig werden, dass nicht er, sondern Hermine und Ron die Berufung zu Präfekten erhalten - eine Art Vertrauensschüler. Ein gewisser Neid auf die »Erfolge« anderer ist auch Harry keineswegs fremd, was ihn umso »menschlicher« macht. Wie schon in den früheren Bänden bekommen es Harry und seine Freunde erneut mit einer zwielichtigen Lehrerperson zu tun, diesmal mit Frau Umbridge. Sie hat sich schon in der Kommission gegen Harry ausgesprochen und unterrichtet nun - was für eine Ironie des Schicksals - das Fach »Verteidigung gegen dunkle Künste«. Freilich bleiben ihre Lektionen blanke Theorie, praktische Übungen gibt es nicht, was wiederum dem Leser verdächtig erscheinen muss. Darüber hinaus schikaniert sie Harry, verbietet das Fliegen sowie das Quidditch-Spielen, die Besen werden daher kurzerhand weggeschlossen. Die Weasley-Zwillinge freilich lassen sich das nicht gefallen, zaubern sich ihre Besen zurück und verlassen mitten in ihrem letzten Jahr und ohne Abschluss die Schule. Sie wollen - sagen wir - Jungunternehmer werden und einen Zauber-Scherzartikel-Laden eröffnen. »Einen Weasley machen« wird in Hogwarts entsprechend zum geflügelten Wort, wenn von Verschwinden und Abhauen die Rede ist. Soweit ein Vorgeschmack auf den voluminösen Band, der im englischen Original immerhin 766 Seiten umfasst. Der uralte Kampf zwischen Gut und Böse Nach wie vor steht die viel gestellte Frage danach, was den »Harry-Potter-Boom« erklärt. Ist es die erzählerische Qualität, die Fantasie der Autorin, die gigantische Vermarktung? Eine Antwort könnte lauten: Es ist - wie schon bei anderen Kult-Texten - die Mischung, die den Erfolg ausmacht. Also simpel gesprochen das »Was« und »Wie« des Textes, die derzeitige Zeitströmung, die Person der Autorin, natürlich die inzwischen eingetretene Vermarktung und die Möglichkeiten einer Mediengesellschaft. Nehmen wir nur einmal die Harry Potter-Bände selbst. Sie enthalten genau jene Momente, die für Klassiker der Kinderliteratur wie für Erfolgstexte auch der Allgemeinliteratur gelten: Da ist zunächst das Erzählen von Geschichten, und J. K. Rowling ist eine Erzählerin von Format. Hinzu kommen die Räume bzw. Schauplätze, in diesem Fall hat die Autorin den klassischen Schauplatz des Internats durch die fantastische Dimension erweitert und »modernisiert«. Durch kunstvoll gebaute Handlungsbögen wird Spannung erzeugt, wozu auch der Wechsel zwischen real-fiktiver Muggelwelt und fantastischer Hogwartswelt beiträgt. Wie in den romantischen Kunstmärchen von Tieck oder E.T.A. Hoffmann, in Lewis Carrolls »Alice im Wunderland« oder in Erich Kästners »Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee« gibt es eine Art Schleuse, durch die man von der einen in die andere Wirklichkeit gelangt. Bei »Harry Potter« ist es ein bestimmter Bahnsteig. Doch konsequenter und geschickter als ihre Vorgänger verbindet J. K. Rowling die Handlung in den zwei Welten miteinander. Es gelingt ihr, ein vielschichtiges Netzwerk zwischen den Ebenen zu knüpfen. Eine einmal gelegte Fährte wird an anderer Stelle, zumeist mit einer überraschenden Wendung, wieder aufgegriffen. Eine zunächst nur schemenhaft angerissene Figur erhält in einem veränderten Handlungskontext eine ganz neue Funktion und Gestalt. Man denke etwa an Harrys Paten, Sirius Black, oder die graue Ratte Krätze. Dabei ist es nicht von Belang, ob die Autorin jeweils von Beginn an die möglichen Wandlungen einer Figur vorgeplant hat. Die Geschichte entwickelt schlichtweg eine Eigendynamik, und anders als in einem so genannten realistischen Roman, kann J. K. Rowling mit dem von ihr verfolgten »Prinzip der Verrätselung« und vor dem Hintergrund einer fantastischen Welt rasante Wendungen von Figuren einleiten. Auch in Band 5 bleibt Harry trotz seiner besonderen Fähigkeiten das Gegenteil eines protzenden Erfolgstypen. Wie im Märchen hat er immer neue Proben zu bestehen, gerät er in Gefahr und muss sich die Achtung der anderen erkämpfen. Der Aspekt des Geheimnisvollen der Figur des Harry Potter erfährt hier sogar noch eine Steigerung, denn es gibt Signale, die eine bislang so nicht vermutete Verbindung zwischen Harry und dem Inbegriff des Bösen, Voldemort, andeuten. Es gehört zu den Essenzen von erfolgreicher Literatur, Figuren und Konflikte zu entwerfen, die archetypisch sind. Auch hier findet der uralte Kampf zwischen »Gut« und »Böse« statt. Doch anders als in der uns vertrauten Erlebnisgesellschaft und einem Teil ihrer Medienprodukte reicht nicht der Einsatz von körperlicher Kraft, im »Harry Potter« müssen die Figuren sich etwas einfallen lassen, man muss seinen Zauberstab und seinen Besen, schon gut bedienen, um siegreich zu sein. Auch J. K. Rowling nutzt also mit Souveränität literarische Traditionen, aber sie imitiert sie nicht nur, sondern mischt sie locker und mit einem Schuss Humor, Komik, ja Ironie. Der englische Humor in all seinen Spielarten ist in den Übersetzungen durchaus erhalten geblieben. Dazu gehört neben der Situationskomik natürlich vor allem das hintergründige Spiel mit der Sprache. Eine Marke wie Adidas oder Nike Die Aufregung, ja Hysterie, die nicht erst mit dem Erscheinen dieses fünften Potter-Bandes verbunden war, nur als marketing-gesteuert zu erklären, wäre zu einfach. Da heute Medien-Erfolg bzw. Bekanntheit für viele der Traum Nummer1 ist, er letztlich aber nur für wenige in Erfüllung geht, werden die Wunschfantasien auf andere Objekte abgelenkt. Das können diverse Superstars sein und natürlich eine Heldin wie Joanne K. Rowling mit ihrem »Harry Potter«. Das Bild von einer Autorin, die - allein erziehend und arbeitslos -, auf Papierservietten im Restaurant diesen Welterfolg produziert, entspricht dem märchenhaften Bild vom Aschenputtel. Und natürlich stellt es für viele, die nie erfolgreich und berühmt sein werden, eine Art Wunschprojektion dar, nämlich die Hoffnung, dass es auch für sie zu schaffen ist. Der Erfolg der derzeit laufenden Casting-Shows unterstreicht das durchaus menschliche Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, den Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen und vielleicht ein Star zu werden. Es lässt sich allerdings vermuten: Der Erfolg des »Harry Potter« wäre vor 1989 so nicht denkbar gewesen. Dies hat nicht nur mit den politischen Veränderungen zu tun oder dem so genannten Wertewandel, sondern vor allem mit dem Internet. Ohne das World Wide Web gäbe es nicht diese weltweit agierende Kommunikationsgemeinschaft - in diesem Fall von Potter-Fans. Das »www« hat in kürzester Zeit einen Austausch über Leseerfahrungen ermöglicht und eine neue Art von Gemeindebildung begünstigt. Ohne das Internet wäre auch die Popularisierung von »Harry Potter« als Merchandising-Produkt nicht denkbar, von der Brille, über den Zauberhut bis zum Hörbuch und Film. Harry ist letztlich zu einer Marke (gemacht) geworden, wie Adidas oder Nike. Dass nunmehr mit Argusaugen über diese Marke gewacht wird und Scharen von Fahndern aufgeboten werden, um Verletzungen aufzuspüren, wäre fast schon ein Thema für den nächsten Potter-Band. Die Ansicht, »Harry Potter« sei lediglich ein Medienprodukt, kann nicht überzeugen: Die Medien können nämlich erfolgreich nur das aufgreifen und verstärken, was ohnehin im gesellschaftlichen Bewusstsein Akzeptanz und Interesse findet. Wiederentdeckung des Vergnügens Ein Welterfolg ruft immer auch Kritiker auf den Plan. Nicht überall werden die Potter-Bände als Literatur akzeptiert. Amerikanische Verleger forderten, sie von der Bestseller-Liste der New York Times zu verbannen, wieder andere haben Schwierigkeiten mit der Rolle, die Magie und Zauber spielen. Andererseits gibt es die Tendenz, Literatur für Kinder und Jugendliche auf »Harry Potter« zu reduzieren und dabei jene Vielzahl von Texten zu übersehen, die in den letzten Jahrzehnten gerade im Bereich der Literatur für junge Leser entstanden sind und sich nicht selten sogar durch größere literarische Innovationen auszeichnen als »Harry Potter«. Doch das sind akademische Debatten, die die Leser nicht interessieren (brauchen). In Zeiten einer Spät- oder Postmoderne sind die Grenzen zwischen E- und U-Literatur ohnehin fließender als je zuvor, auch die zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur. Es ist längst - wie Umberto Eco sagt - zur »Wiederentdeckung nicht nur der Handlung, sondern auch des Vergnügens« gekommen. Darum greifen zunehmend auch Erwachsene zu »Harry Potter«. Wer »Harry« mit Spaß liest, zeigt zudem, dass er sich der eigenen Kindheit zu erinnern und sich auf Labyrinthe der Fantasie einzulassen vermag. Er ist eben gerade kein »Muggel«. Ein weiterer Aspekt: Die Vorstellung, Kinder würden einfach gebaute und Erwachsene komplizierte Texte lesen und lieben, erscheint fraglich. Hölderlin oder Franz Kafka sind faszinierende Autoren, doch nicht für ein Massenpublikum. Zudem sind viele Leser in der Lage, zwischen den Literaturen zu »switchen«. Auf der einen Seite also genießt man einen hochkomplexen, philosophisch anspruchsvollen Roman, auf der anderen Seite lässt man sich von einer eher einfach strukturierten Geschichte in den Bann ziehen. Dabei bedeutet »einfach« keinesfalls trivial. Problematisch ist - wie Michael Ende einmal gesagt hat - dieser »grimmige Anspruch auf Ausschließlichkeit«, das Entweder-Oder. Vielleicht handelt es sich dabei wirklich um eine deutsche Untugend. Doch so funktioniert Literatur (zum Glück) nicht. J.K. Rowling ist etwas gelungen, was ganze Scharen von militant didaktisierenden Leseföderern nie erreichen werden: Jung und alt gewinnen dem vermeintlich »drögen« Medium Buch endlich wieder Spaß ab. Carsten Gansel, 1955 in Güstrow geboren, ist heute Professor für deutsche Literatur und Sprache an der Universität Gießen. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Orden des Phönix. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Carlsen Verlag. 1021Seiten, gebunden, 28,50 EUR.

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