Ist die Selbstvernichtung der Menschheit „normal“?
Zukunftswerkstatt in Buch versuchte Wurzeln menschlichen Verhaltens auf die Spur zu kommen
Am 12. und 13. November kamen in Berlin-Buch 200 Wissenschaftler, Künstler und Journalisten zusammen, um sich zu den verhaltensbiologischen Grenzen für die Überlebensfähigkeit der Menschheit vorzutasten. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen die Antriebe des menschlichen Handelns, jene vor allem, die möglicherweise das Ende der Gattung Mensch verhindern könnten.
Während der zwei Tage Zukunftswerkstatt verhungerten in der Welt eine Viertelmillion Menschen, starben 200 Tierund Pflanzenarten aus, wurden 50 000 Hektar tropischen Regenwaldes abgeholzt und dehnten sich die Wüsten um weitere 40 000 ha aus. Dennoch kamen die Tagungsteilnehmer kaum einen Schritt weiter, rief die Botschaft der Deutschen Sektion des Club of Rom kaum Bestürzung hervor. Zwanzig Jahre sind seit dem ersten Bericht des Club of Rom verflossen, ohne daß eine Regierung entsprechend reagiert hätte: Ein Ergebnis, das dem der Bergpredigt ähnelt.
So ist denn die Vorstellung der. Selbstvernichtung weniger erschreckend als die Normalität, in der sie geschieht: Wäh-
rend die Biosphäre zusammenbricht, werden Rekorde gefahren, gelaufen oder getanzt, schlachten sich Menschen erbarmungslos wegen etlicher Quadratkilometer Land, wegen ihrer Religionsoder Volkszugehörigkeit ab, kämpfen Gewerkschaften für Lohnerhöhung statt um Arbeitszeitverkürzung, werden Regierungen zusammengewählt, die für die Konservierung der Zustände stehen.
Was sind die Wurzeln für dieses irrationale Treiben? Ist die schlechte Kinderstube dafür verantwortlich, die mangelnde Brutpflege der intelligenten Hominiden, die ihre Nachkommen, statt sie zu umsorgen, vor dem Fernseher verkommen lassen? Oder sind es Gene, entartet und fehlerhaft, oder auf stupide Weise sich so vollkommen kopierend, daß wir immer noch die Steinzeitmenschen sind, wie es einige Verhaltensbiologen behaupten? Retten uns neue Heilslehren, die Gentechnik oder ein ökologischer Hitler vor dem Kollaps?
Als zentralen Ansatz zur Erforschung der menschlichen Antriebe stellte der Gastgeber Dr. Pürschel (Max-Delbrück-Centrum Berlin-Buch) den Ent-
wurf zu einem „Atlas menschlicher Verhaltensmuster“ vor. Seine These - „Um zu überle-
ben, muß sich die Menschheit zu einer drastischen Verhaltensänderung durchringen“ war jedoch nicht origineller als der hilflose Appell eines Anwesenden, „jetzt und bei uns“ anzufangen. Das ganze Dilemma wurde sichtbar, als einer der jungen Wissenschaftler entnervt fragte, wie denn ohne Wirtschaftswachstum der Aufstieg der Jungen in die Hierarchie gewährleistet bleiben könne. Daß sich etwas tun muß, darüber waren sich alle Anwesenden einig. Doch in der
Frage des Weges herrschte erschreckende Ratlosigkeit.
Pürschels Verdienst ist es, die Ratlosigkeit nicht nur einzugestehen, sondern sich Rat vor allem von Fachleuten anderer Richtungen einzuholen und Interdisziplinarität herzustellen. Immerhin konnte man sich auf wichtige globale Ziele verständigen, die von Prof. Niemetz (FU Berlin) auf die einfache Formel - 1. Erhaltung der Menschheit und 2. Erhaltung der Gesundheit - gebracht wurde.
Doch die Bevölkerungsexplosion geht kaum gebremst weiter. Angeheizt von Fundamentalisten aller Weltreligionen, gebremst allenfalls durch Kriege mit europäischen und amerikanischen Waffen. Zehn Milliarden Menschen soll die Erde nach optimistischen Schätzungen tragen können. Das Wachstum aber wird auch dann weitergehen. Und in Europa sucht man die Schuldigen überall, nur nicht im eigenen Land. Rechnungen werden aufgemacht, die beweisen, wie schlimm es wäre, wenn alle Chinesen so viele Autos hätten wie die Deutschen. Doch Tempolimit oder Benzinpreiserhöhungen werden in der öffentli-
chen Diskussion zur Beschneidung fundamentaler Menschenrechte, als ob dieser Luxus nicht bald schon ein natürlichen Ende finden könnte. „Verzicht“ wurde zum Unwort der Deutschen, „Arbeit und Wohlstand“ dagegen zum Wahlkampfschlager.
Der Ansatz des Cottbuser Lutz von Grünhagen, zunächst einmal die naturgegebenen Bedürfnisse des Menschen herauszufiltern, das stressige und konkurrenzerfüllte Dasein von allem überflüssigen Ballast zu befreien und einfach danach zu fragen, was wir denn eigentlich wollen, fand kaum Gehör. Ein utopisch anmutender Ansatz, aber so schlicht wie die formulierten Ziele und so einfach wie das Schicksal, das uns erwartet, wenn wir diesen Einwand überhören.
Was eigentlich hindert uns, jetzt mit dem Handeln zu beginnen, bevor die Politiker die Angst vor den Wählern verlieren, bevor die Wissenschaftler zu gesicherten Erkenntnissen gekommen sind, die auch den letzten Zweifler überzeugen, bevor uns unsere eigenen Kinder erschlagen, weil wir ihre Zukunft zerstört haben?
KLAUS MUCHE
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