- Kultur
- Vor 25 Jahren starb die Lyrikerin und Friedensnobelpreisträgerin Nelly Sachs
„Laßt uns das Leben leise wieder lernen“
Nelly Sachs Foto: Archiv
Heute vor 25 Jahren, am 12. Mai 1970, ist Nelly Sachs, Nobelpreisträgerin, in Stockholm 79jährig nach schwerem Leiden gestorben. Das Kaddisch, das Totengebet, an ihrem Grab gesprochen, redet in jüdischer Tradition ausdrücklich vom Leben. So'-möchte ich auch ihre Dichtung verstehen: Ein Kaddisch für die sechs Millionen Gemordeten ihres Volkes, eine Totenklage, aber für die Lebenden dringende Mahnung, das Leben wieder zu erlernen. Jede ihrer Gedichtzeilen zeugt davon, daß die aus der Nazihölle gerettete Jüdin es den Ermordeten schuldig sei, Grabsteine aus Worten gegen das Vergessen zu setzen.
Nelly Sachs hat nur in deutsch geschrieben. Sie hat bewußt die deutsche Sprache meisterhaft zur Totenklage gebraucht, gerade weil auf deutsch soviel endgültiges Verderben erdacht, ausgesprochen und organisiert worden ist, nicht nur für Juden: „...schneller als Wind mischt Tod die schwarzen Karten...“ Nelly Sachs hat das schmerzliche Geheimnis bald durchschaut, daß die Toten der Fürsprache bedürfen gegen die schnell durch Vergeßlichkeit heilende Wunde ihrer Ausrottung. Sie kannte den trügerischen Trost, daß die Zeit Wunden heile. Sie hoffte aber im Gegenteil darauf, daß sogar ein
Engel die Wunde zwischen Gestern und Morgen offenhält, daß soviel falscher Tod von den Menschen überhaupt erst einmal begriffen werden kann. Damit meint sie eben nicht erst den zweiten Weltkrieg, sondern den sorgsam vorbereiteten Tod: die deutsche Rassengesetzgebung', die, nachdem die politisch Mißliebigen längst in Lager interniert waren, vom 15. September 1935 an, nun ausdrücklich auch allen deutschen Juden als „Nichtariern“ die Gleichberechtigung der Lebendigen abgesprochen hat.
Nelly Sachs fordert kein Schuldbekenntnis der Nachgeborenen, sondern fragt in ihrer Lyrik sich und andere, ob in Deutschland eine Wunde ist, die da schmerzt und wer da trauert? Es gibt schon zu denken, wenn sie nicht von Menschen, sondern von einem Engel hofft, daß er trauert; und sich zugleich anstrengt, die Wunden nicht zu schnell verheilen zu lassen: „Zwischen Gestern und Morgen/ steht der Cherub/ malt mit seinen Flügeln die Blitze der Trauer/ seine Hände aber halten die Felsen auseinander/ von Gestern und Morgen/ wie die Ränder einer Wunde/ die offenbleiben soll/die noch nicht heilen darf/ nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer/das Feld des Vergessens.“
Nelly Sachs fragt sich und die Ermordeten, denen durch die Schornsteine des Todes hindurch nur ein Massengrab in den Wolken zugestanden wurde: „Warum diese schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“ Es ist nicht nur die Wunde zwischen Gestern und Morgen, die nicht vorzeitig verheilen darf zum Feld des Vergessens! Erinnern ist für sie kein Imperativ an andere. Sie selber lebte ihr Leben als „gekrümmte Linie des Leidens“, um nicht vergessen zu dürfen, was ihr zugemutet und ihrem Volk angetan wurde. Sie hat dieses Verhängnis in Berufung zur Mahnung verwandelt. Ausgeliefert den Angstzuständen, daß Nazischergen, denen sie in letzter Minute mit ihrer Mutter 1940 noch entkommen war, sie doch noch einholen könnten.
Sprachlos vor Pein ringt sie monatelang - bis zu drei Jahren in der Nervenklinik - behandelt mit Elektroschocks, ihrem unstet gequälten Nachdenken Zeile um Zeile ab. Sie findet im Schreiben die Sprache wieder. Es waren nicht nur die alten Ängste, die ihr immer wieder für Monate die Kraft nahmen. Bürokratische Geschichtslosigkeit brachte es dazu, daß doch tatsächlich in ihrem schwedischen Paß für eine Reise nach Deutschland wieder der - erst durch die Ariergesetzgebung in Deutschland' allen Frauen aufgezwungene -Name Sarah eingetragen worden war. Eine gedankenlose Lappalie? Nicht für eine Frau, die in Berlin mit der eigenen Mutter in der eigenen Wohnung wie angewurzelt zusehen mußte, wie zwei SA-Männer mit ihren Ehefrauen diese jüdische Wohnung plünderten, weil die brennenden Synagogen der Pogrommacht vom 9 November 1938 ihnen das Recht dazu gaben. Jedes Erlebnis diese Art und Erinnerung der Qualen ließen sie daran zweifeln, daß die Zeiten sich wirklich schon geändert hätten... Weil doch mit Maidanek nun das Menschenverbrennen von Hiroshima genannt werden muß: „Wo die Zeit wegfällt/ an den Gerippen in Maidanek und Hiroshima“ Wer hat je diese beiden Orte so bald in den Zusammenhang der Mordmaschinerie gebracht?« Wir üben heute schon den Tod von morgen/ wo noch das alte Sterben in uns welkt/ wo Angst der Menschheit, nicht zu überstehen.“
Nelly Sachs hat jedes ihrer Worte im Angesicht des Todes Wurzeln schlagen lassen in der Hoffnung auf „Überleben“. Wie die Bäume, die in ihren Gedichten dann mit „Wurzelfüßen“ wandern zu den Quellen, die ihnen neue Kraft geben. Keines ihrer Worte hat Haß als Quelle. „Und wir alle, was sollen wir tun, mit dem Wort, daß uns geschenkt wurde, als es an seinen Wurzeln zu packen, auf daß es seine geheime einige Kraft hingibt an eine Eroberung - die einzige Eroberung der Welt, die nicht Weinen, die Lächeln gebiert: die Eroberung des Friedens“ ist ihr Hauptsatz in ihrer kurzen Dankrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt/Main 1965.
Was Nelly Sachs schrieb, ist von ihr durchlebt: „Fahrt ins Staublose“, „Glühende Rätsel“, „Teile dich, Nacht“ Sie hat ihre Lyrik der Verzweiflung ihres beinahe Irreseins abgetrotzt. Jede Zeile war ein Stein zum Überleben, zum Bau des neuen Hauses: Hoffnung. Hoffnung zum Neuanfang der Überlebenden. Für sie lag dieser Neuanfang im Wort, im „geretteten Alphabet“.
„Nelly Sachs gehört zu den Dichterinnen, die wir in der Zukunft am allermeisten brauchen werden“, schrieb der schwedische Journalist und Freund Olaf Lagercrantz vor 25 Jahren in seinem Nachruf.
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