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Es war, als wenn man in Watte boxt

BRUNHILD DATHE, parteilose Bezirksbürgermeisterin, pendelt in Berlin täglich zwischen zwei Welten

  • Wolfgang Her
  • Lesedauer: 5 Min.

Früher war die DDR für mich . . .

Niemandsland.

Wenn ich vor der Wende in die DDR reiste

dann fühlte ich mich immer etwas bedrückt.

Das Fernsehen der DDR war für mich . . .

nur interessant, wenn die Polizeiruf-Krimis kamen.

Seit Deutschland wiedervereinigt ist, habe ich . . .

.wahnsinnig viel gelernt. Ich habe mich noch nie so stark mit den geäe'llsch'afflich'eti'Siruktur'dn der altäri Bundesrepublik auseinandersetzen müssen.'

ganz schlecht. Aber plötzlich kriegt man ein anderes Verhältnis zu so einer Gegend.“

Im Mai 1990 wurde sie Stadträtin. Vielleicht gab es Anfeindungen; sie hat jedenfalls keine bemerkt und hielt sich selbst tunlichst zurück. „Ich war ja nicht gekommen, um Vorschriften zu machen.“ Es war eine Unmenge zu tun, und sie hatte den Ehrgeiz, das Gesundheitswesen gut über die Runden zu bringen. „Es gab einen wahnsinnigen Druck, zu privatisieren. Ich habe das damals geradezu als Hetzkam-

pagne empfunden. Im Westen war es schwer zu erklären, daß es in der DDR schon eine flächendeckende Versorgung gegeben hatte. Alle redeten nur vom Neuaufbau.“ Immerhin hat Hohenschönhausen noch als einzige Kommune eine Jugendzahnklinik. Die konnte mühsam gerettet werden.

Womöglich würde sie noch heute irgendwo in Westdeutschland sitzen, hatte sie sich nicht mit ihrem Vater angelegt. Der war im Krieg gewesen, auch in der NSDAP, „der hatte danach die Schnauze voll von Politik. Wie man das auch heute oft beobachtet.“ Irgendwann las Brunhild Dathe nach all den Mädchenromanen „Das Tagebuch der Anne Frank“, irgendwann begann sie, nach der Hitlerzeit und der Judenverfolgung zu fragen, irgendwann wollte sie wissen, was ihr Vater getan hatte, irgendwann hatte sie von seinen Antworten die Nase voll. „Zum soundsovielten Mal seine U-Boot-Geschichten aus Norwegen, das konnte ich nicht mehr hören. Ich hatte dann auch so eine Antihaltung, so einen vorwurfsvollen Ton. ? Abeü'iCh'mußte.mich von ihm absetzen. Das konnte gar nicht radikal genüg sein.“ ???“? ?>? i

Sie lernte erst Köchin, dann Krankenschwester, ging nach Frankfurt/Main, schloß sich dort einer Roten Zelle Medizin an. „Ein Zirkel war das, wo wir Marx und Engels gelesen und uns ganz ordentlich mit dem Materialismus auseinandergesetzt haben und was das für die Medizin bedeutet.“ Das ist ja schon so lange her, sagt Brunhild Dathe und lehnt sich zurück, eine Jugendgeschichte, lassen wir das lieber Ihr Leben hat sie in Etappen eingeteilt.

Immerhin hat Marx ihr eine neue Dimension eröffnet, „ein Verständnis von der Welt, das nachvollziehbar und begreifbar war“ Später kam sie zur Frauenbewegung. Auch das ist schon lange her, sagt sie. „Da haben wir Marx auf die Füße gestellt. Aus ganz persönlicher

gung verbunden. Ich hatte da immer Angst.“

Der Hang zur Gesundheitspolitik ist über die Jahre geblieben. Mitte der 80er Jahre wurde sie Gesundheitsstadträtin für die Alternative Liste in Kreuzberg. Jahre später, in Hohenschönhausen, war alles ganz anders. Sie wußte anfangs nie genau, was von den einzelnen Parteien kommen würde, denen von Fall zu Fall ihre Grundsätze egal zu sein schienen, wenn sie sich nur irgendwie durchsetzen konnten. Vieles war zufällig, aber manches wurde so möglich, was heute nicht mehr funktioniert. Inzwischen sind die Fronten ziemlich festgerüttelt, die Parteien sind ausrechenbar

sie nicht. Etwa zwei Jahre lang hat Brunhild Dathe genau registriert, wenn sie früh und abends die frühere Grenze passierte. Irgendwann war sie weg. Umziehen wollte sie nicht nach Hohenschönhausen. Sie 'ahnte, es würde ein Job auf Zeit.

Derzeit feiert der Bezirk den zehnten Geburtstag. Der reine Zufall, daß gleichzeitig Brunhild Dathes Amtszeit endet. Sie schwebt wohl schon etwas über den Dingen. In ihrer Festrede nicht einmal der Anflug von Wahlkampf, statt dessen würdigende Worte für das DDR-Wohnungsbauprogramm. „Mir ist klar geworden“, erklärt sie später, „daß es - egal, wie man die Zeit bis 1989 bewertet - auch ein gemeinsames Band mit denen gibt, die damals hier Verantwortung hatten. Aus vielen persönlichen Erzählungen weiß ich, mit wieviel Einsatz der neue Bezirk aufgebaut wurde. An diese Leistung haben wir doch angeknüpft, bei allen Mängeln, die es gab.“

Den Begriff Stasi verschluckte sie während der Festrede fast in einem Nebensatz. Sie habe Neutralität wahren wollen. Dennoch ist das Thema allgegenwärtig. Ihr Amtssitz befindet sich in einem einstigen MfS-Gebäude. Gleich nebenan steht das frühere Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit. 1990 stellte sie fest, daß Ärzte aus dem Gefängnis ins Gesundheitsamt übernommen worden waren. Sie sprach mit Leuten, die dort gesessen hatten, die erzählten, daß ihnen alle Zähne aufgebohrt worden seien, auch die gesunden. Sie hat dann mit einem der Zahnärzte geredet, der das alles für Unsinn erklärte. Da habe es ihr die Schuhe ausgezogen, sagt sie.

„Wenn man in einer solchen Position gearbeitet hat, dann muß man ein Resümee ziehen und überlegen, was man in Zukunft noch machen kann.“ Sie habe Hochachtung vor ehemaligen Mitarbeitern, die die Konsequenzen zogen. Die meisten hätten aber diese Geschichten verdrängt. Mit allen sei gründlich gesprochen worden, etliche habe man entlassen. „Aber ich wollte kein politisches Kapital daraus schlagen. Das wäre politisch falsch und menschlich unzumutbar, finde ich.“ In der Tat, die umstrittenen Stasifälle kamen aus anderen Bezirken Berlins.

Das ist bald nicht mehr ihr Problem. Womöglich beendet sie gerade wieder eine Etappe. Sie überlegt, in die Wirtschaft zu gehen, Kommunen bei der Verwaltungsreform zu beraten. Damit hat sie sich viel beschäftigt und glaubt, sich einen guten Ruf erarbeitet zu haben.

Aus allen Lebensphasen nehme der Mensch wesentliche Dinge mit, sagt Brunhild Dathe. „Und gleichzeitig läßt man Leute zurück, mit denen man etwas gemeinsam hatte. Das wird auch als Verrat empfunden.“ Früher war es für sie schwer, damit umzugehen, heute betrachtet sie es als ihr Recht, sich zu verändern.

WOLFGANG HUBNER

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