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Zur Angst der Deutschen nach der Wende

  • HELMUT KURY
  • Lesedauer: 8 Min.

Foto: JOACHIM FIEGUTH

Es gehört zu den jeweils zur Jahresmitte wiederkehrenden, von der Presse meist breit aufgegriffenen Ereignissen, daß der jeweilige Innenminister die neuesten Zahlen der Polizeilichen Krimmalstatistik (PKS) vorstellt. In der Regel wird über einen mehr oder weniger deutlichen Anstieg der (Gesamt-)Kriminalität berichtet. Hat die Kriminalität insgesamt abgenommen wie beispielsweise vor einem Jahr, wird darauf hingewiesen, dies könne kein Grund zur Entwarnung sein. Denn einzelne Straftatengruppen, die besondere Sorge bereiten, hätten ja nach wie vor zugenommen. Und man wisse ja auch nicht, wie es im nächsten Jahr weitergehe. Also komme es darauf an, die innere Sicherheit weiter zu festigen. Was insbesondere bedeute, Polizei und Justiz zu stärken, möglichst auszubauen, unter Umständen auch eine schärfere Gesetzgebung durchzusetzen.

Bei aller Ungenauigkeit der Statistik, die nur angezeigte und polizeilich registrierte Straftaten erfaßt (das ist durchschnittlich jede zweite), kann kaum daran gezweifelt werden, daß die Kriminalität in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Industriestaaten zugenommen hat. Zugenommen hat aber vor allem die Eigentumskriminalität, oft mittelschwere Fälle mit relativ geringem Schaden, wodurch sich der Kriminalitätsanstieg zu einem erheblichen Teil relativiert.

Anders stellt sich die Situation allerdings seit Ende der 80er bzw Anfang der 90er Jahre in den neuen Bundesländern bzw den Staaten des früheren Ostblocks dar. Zu sozialistischen Zeiten lag die Kriminalitätsbelastung in diesen Ländern deutlich niedriger als in Westdeutschland oder den anderen westlichen Industrienationen - allerdings waren viele Bereiche anders geregelt, was z.T auch den Kriminalitätsunterschied erklären kann. Zu denken wäre etwa an die stärkere Grenzüberwachung, die eingeschränkte Reisefreiheit, die stärkere Überwachung und Kontrolle der Bürger, das deutlich geringere Warenangebot und die damit zusammenhängenden niedrigeren Gelegenheitsstrukturen, aber auch an die in aller Regel niedrigere Arbeitslosenquote, die niedrigere Fluktuation u.a.

Nach offizieller Lesart betrug die Kriminalitätsbelastung in der früheren DDR lediglich etwa 10 Prozent des „kapitalistischen“ Westdeutschlands. Schon früher vermutete man, heute weiß man es, daß die Zahlen der DDR-Kriminalitätsstatistik „geschönt“ wurden. Aber trotz allem war die Kriminalitätsbelastung in der früheren DDR deutlich niedriger als in Westdeutschland. Sie wird heute auf ein Drittel des

westdeutschen Niveaus geschätzt.

Die „Wende“ brachte den Ostdeutschen viel Angenehmes, aber nicht nur. So öffneten sich die Grenzen - nicht nur nach dem Westen, sondern auch nach dem Osten. Innerhalb weniger Monate wurde das Land mit einem nie gekannten Warenangebot überschwemmt. Man mußte sich Westmedien nicht mehr „be-

sorgen , ganz im Gegenteil: Die Bürger wurden von der Westpresse geradezu überflutet, es begann ein reger Konkurrenzkampf zwischen den Medien, bei welchem sehr schnell zum altbekannten Verkaufsrezept gegriffen wurde - „Sex and Crime“ Eine rege Reiseaktivität setzte ein. Allerdings auch eine „Pleitewelle“, die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Mieten stiegen an, die umfassende Versorgung durch den Staat brach zusammen, die Bürger mußten sich um ihre Belange in stärkerem Maße selbst kümmern und vor allem auch: Die Kriminalität nahm zu.

Glaubt man durchaus plausiblen neueren Untersuchungsergebnissen, hat die Kriminalitätsbelastung Ostdeutschlands inzwischen das Westniveau erreicht, in manchen Bereichen dieses sogar überschritten. Das bedeutet aber bei der oben geschätzten

Kriminalitätsrate in der früheren DDR von etwa einem Drittel Westdeutschlands einen Anstieg der Kriminalitätsbelastung um das Dreifache in den letzten sechs Jahren. Lebten die Bürger in der früheren DDR hinsichtlich Kriminalitätsbelastung in einem recht günstigen Zustand - es gab wenig, und hierüber wurde wenig berichtet -, änderte sich das deutlich: Jetzt gibt es viel (mehr), und es wird vor allem erheblich

mehr und anders darüber berichtet. Ähnlich, teilweise noch dramatischer ist die Situation in den Ostblockstaaten, so etwa Ungarn oder Polen.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß neben der Kriminalität auch die Angst, Opfer derselben zu werden, angestiegen ist. Einhellig stellen Befragungen in den neuen und alten Bundesländern fest, daß seit Anfang der 90er Jahre insbesondere in den neuen Ländern, deutlich weniger in den alten, die Verbrechensangst gestiegen ist. Auch aus Untersuchungen in anderen früheren Ostblockstaaten, so etwa Ungarn, Polen oder Rußland, geht hervor, daß die Verbrechensangst deutlich, nach manchen Autoren geradezu „dramatisch“ gewachsen sei.

So gaben 1989 bei unseren großangelegten Umfragen 33,4 Prozent an, daß sie sich nachts

in ihrer Wohngegend draußen allein fürchten. 1991 waren dies 45,6 und 1993 gar 63,7 Prozent. Auch repräsentative Umfragen des Instituts für Praxisorientierte Sozialforschung (IPOS) deuten auf einen Anstieg der Verbrechensangst seit Beginn dieses Jahrzehnts hin. Die Frage, ob die Sicherheit der Bürger auf Straßen und Plätzen durch Kriminalität bedroht sei, bejahten 1990 in Ostdeutschland 65, 1992 dagegen

95 Prozent. In Westdeutschland war in derselben Zeit ein Anstieg von 56 auf 71 Prozent zu registrieren. Allerdings zeigen diese und auch andere Umfragen, daß ab 1993 in Ostdeutschland die Angst vor Verbrechen wieder abnimmt, wenn auch nur langsam.

Fest steht: Die Bevölkerung Ostdeutschlands ist seit der Wende deutlich verunsichert und beunruhigt. Beim Ausmaß der massiven gesellschaftlichen Veränderungen verwundert das nicht. Inzwischen hat man sich an die neuen Zustände mehr oder weniger gewöhnt, und erwartungsgemäß legt sich die Angst etwas. Allerdings ist zu bedenken, ob sich die diagnostizierte Angst tatsächlich immer auf Verbrechen und nur auf diese bezieht. Wer insgesamt über die neuen gesellschaftlichen Zustände, insbesondere über die rasche Veränderung in vielen Berei-

chen des alltäglichen Lebens verunsichert ist, wird auf die Frage, ob er nachts bei Dunkelheit draußen allein in seiner Wohngegend Angst hat, eher mit „ja“ antworten. Das heißt, die Angst vor Verbrechen wird nicht ausschließlich von der gestiegenen Kriminalität ausgelöst, wie Presse und Politik unterstellen.

Über das Kriminalitätsgeschehen erfährt die Bevölke-

rung ohnehin nur in außerordentlich verzerrter und selektierter Weise. Die Presse berichtet nicht über die Kriminalität, sondern lediglich über sehr wenige, ausgewählte Bereiche bzw Einzelfalle, und dann oft sehr dramatisiert. Das, was vor allem in den Medien oft als „Verbrechensfurcht“ dargestellt wird, ist aber mehr oder weniger ein Maß für die Beunruhigung der Bevölkerung aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen. Die gestiegene Kriminalität trägt hierzu bei, ist aber nicht alleinige Ursache. Die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher bzw kriminologischer Untersuchungen hängen auch stark davon ab, wie die Bereiche gemessen werden. Wir konnten dies in verschiedenen empirischen Studien belegen. Wird beispielsweise gefragt, welchen Stellenwert hinsichtlich der Probleme einer Ge-

meinde die Kriminalität hat, wird dieser oft Rangplatz 1 zugeordnet. Wird dagegen allgemein nach dem Problemen einer Gemeinde gefragt, rückt die Kriminalität in aller Regel auf einen unteren Rangplatz nach Arbeitslosigkeit, Umweltproblemen, Verkehrsschwierigkeiten u.a. Auch das macht deutlich: Die Verunsicherung der Ostdeutschen durch die Kriminalitätsentwicklung ist zwar größer als die der West-

deutschen, wird aber doch nicht als größtes Problem unserer Gesellschaft angesehen.

Durch die gesellschaftlichen Veränderungen beunruhigte Bürger entwickeln nicht nur mehr Verbrechensangst, sondern, und das ist vor allem politisch relevant, gleichzeitig eine punitivere Einstellung. D.h. sie stimmen eher für Strafe und Repression als für Alternativen wie Resozialisierungsmaßnahmen, Schadenswie-? dergutmachung oder Täter-Opfer-Ausgleich. Ängstliche Bürger sind offensichtlich eher für eine repressive Kriminalpolitik zu gewinnen. Von daher verwundert es nicht, wenn rechtsorientierte Parteien in Wahlkämpfen das Thema „Innere Sicherheit“ bevorzugt auswählen und hier oft ein wenig objektives Bild der Kriminalitätsentwicklung zeichnen, um den Bürgern gleichzeitig ihre „Lösungen“ anbieten zu

können. Die erschöpfen sich meist in härteren Gesetzen, mehr Polizei und schärferer Strafverfolgung.

Zweifelsfrei muß der Erhalt der inneren Sicherheit ein wichtiges politisches Ziel jeder Regierung sein. Von daher sind eine funktionierende Polizei und eine konsequente Verfolgung von Rechtsbrechern wichtig. Daß harte Bestrafung jedoch nicht die beste Reaktion hinsichtlich einer Wiederherstellung des Rechtsfriedens sein muß und auch keineswegs stets im Interesse des Opfers ist, hat die kriminologische Forschung der letzten Jahre deutlich gezeigt. Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich führen in aller Regel weiter als etwa eine Bestrafung des Rechtsbrechers nach herkömmlichem Muster

Der Knmmahtätsanstieg in den Ländern des früheren Ostblocks, also auch Ostdeutschlands, war nach der Wende, wie gesagt, zu erwarten. Langfristig ist aber auch in Westeuropa ein Wandel festzustellen. Wenn beispielsweise von einem „Werteverfall“, von einer „Erosion der Normen“, von einer „zunehmenden Isolierung des einzelnen“, von einer „Brutalisierung der Medien“ u.a. gesprochen wird, wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung bzw. einzelner Gruppen zum Nachteil ändern, wenn die Wirtschaft zunehmend aggressiver für den Verkauf ihrer Produkte wirbt, um nur einige Punkte zu nennen, können hierin auch Gründe für die steigende Kriminalitätsbelastung gesehen werden.

Versprechungen, durch repressive Maßnahmen die Kriminalität erheblich reduzieren zu können, bewirken letztlich nur Enttäuschungen. Eine objektive Aufklärung über Hintergründe und Zusammenhänge sowie über die tatsächliche Gefährdung, die insgesamt nach wie vor relativ gering ist, dürfte die Furcht vor Verbrechen eher eindämmen. Die Wahrscheinlichkeit, im Straßenverkehr infolge eines Verkehrsunfalles sein Leben zu verlieren, ist dreimal so hoch wie durch ein Tötungsdelikt wie Mord, Totschlag o.a.

Das immer wieder geführte Lamento darüber, wie schlimm sich die Kriminalität entwickelt habe, und daß sich endlich etwas ändern müsse, ist sehr alt. Wenn wir die Kriminalitätsbelastung in unserem Lande wirklich reduzieren wollen, müssen wir deren Ursachen angehen, also gesellschaftliche Bedingungen ändern. Was der Wissenschaftler und KriminaFpolitiker Franz von Liszt vor 100 Jahren betonte, daß nämlich die beste Kriminalpolitik eine gute Sozialpolitik sei, gilt

auch hfiut.fi noch.

Froj. Helmut Kury gehört zur Forschungsgruppe Kriminologie am Max-Planck-Institut Freiburq.

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