Wenn Pilze Steine fressen

Lebenspartner der Bäume erschließen nährstoffarme Böden

  • Lucian Haas
  • Lesedauer: 5 Min.
Lange Zeit schien Forstwissenschaftlern alles klar zu sein: Das Waldsterben müsse damit zu tun haben, dass der saure Regen den Waldboden zerstört. Denn je saurer die Erde ist, desto weniger gelöste Nährstoffe können die Bäume aus dem Boden holen. Doch in den vergangenen Jahren machten Forscher in Baden-Württemberg erstaunliche Beobachtungen. »Im Südschwarzwald gibt es Böden, in denen praktisch kein lösbares Magnesium mehr vorhanden ist. Dennoch zeigen die Bäume keine Mangelerscheinungen«, sagt Ernst Hildebrand, Leiter des Instituts für Bodenkunde und Waldernährungslehre an der Universität Freiburg. Wo aber bekommen die Pflanzen ihre Nährstoffe her, wenn nicht aus dem Boden? Hildebrand und seine Mitarbeiter fanden eine unerwartete Erklärung: »Bei sehr versauerten Standorten haben die Bäume offensichtlich einen Zusatzspeicher von Nährelementen entdeckt - die Steine.« Zwar könnten die Bäume nicht selbst mit ihren Wurzeln in die Steine dringen. Doch sie haben Helfer, die Granit, Sandstein und Co regelrecht anknabbern: so genannte Mykorrhizapilze. Mykorrhizapilze sind Bodenpilze, die in einer Art Lebensgemeinschaft mit den Baumwurzeln leben. Über dünne, schlauchartige Auswüchse, so genannte Hyphen, dringen sie in die feinsten Bodenporen vor, nehmen dort Nährelemente auf und geben sie an die Wurzeln weiter. Als Gegenleistung liefern die Bäume ihnen Zucker. »Manche Bäume geben bis zu 20 Prozent der Energie, die sie bei der Photosynthese gewinnen, an die Mykorrhizapilze weiter«, erklärt Hildebrand. Dass die Pilze tatsächlich die Nährstoffe auch aus den Steinen im Boden holen, schließen die Wissenschaftler aus vielen Feldbeobachtungen. »Wir haben eindeutig Pilzhyphen in Gesteinen nachgewiesen«, sagt Hildebrand. Zu erkennen sind die Pilzhyphen mit dem bloßen Auge nicht. Sie sind zehn Mal feiner als ein menschliches Haar. Derart dünn können sie problemlos auch in kleinste Risse der Steine hineinwachsen. Dort gibt es reichlich Nährstoffe, die durch Verwitterungsprozesse ständig aus dem Kristallgitter der Gesteine gelöst werden. »Für Pilzhyphen ist die chemische Umgebung in solchen Fissuren vermutlich geradezu paradiesisch im Vergleich zur versauerten Feinerde«, sagt Hildebrand. Doch die Pilze können noch mehr. Offenbar sind sie in der Lage, selbst in Gesteine vorzudringen, die noch gar nicht verwittert sind. »Wir haben Pilzhyphen gefunden, die sich richtig ins Mineral reingebohrt haben«, berichtet der Forstwissenschaftler. Das gelinge den Mykorrhizapilzen offenbar mit Hilfe starker Säuren, die sie beim Wachsen ausscheiden - zum Beispiel Oxalsäure. Sie lösen den Mineralverband der Steine auf. Ob die Pilze sich gezielt in die Felsen fressen, um an bestimmte Nährstoffe zu gelangen, wissen die Forscher noch nicht. Eines ist allerdings klar: Die Bodenkundler müssen angesichts der neuen Erkenntnisse ein lange Zeit gültiges Paradigma überdenken. Bisher galt als sicher, dass die Pflanzen ihre Nährstoffe allein aus dem Feinboden beziehen. Steine hingegen sollten ihre Nährstoffe ausschließlich über jahrhundertelange Verwitterungsprozesse freigeben. Daher werden bei Bodenanalysen bislang alle Bodenbestandteile, die größer als zwei Millimeter sind, ausgesiebt und nicht weiter beachtet. »Diese Trennung zwischen Boden und Steinen als Nährstoffquellen gibt es in der Natur aber nicht«, sagt Hildebrand. »Die Feinbodenanalysen allein geben nicht das reale Nährstoffangebot für die Waldbäume wieder.« Die Freiburger Forscher sind nicht die ersten, die steine-fressende Pilze gefunden haben. 1997 berichtete das Wissenschaftsjournal »Nature« über Studien des niederländischen Bodenkundlers Antoine Jongmans von der Universität Wageningen. Der hatte in Steinen aus saurem Waldboden in Schweden feine, kreisrunde Kanäle gefunden, die er als Bohrlöcher von Pilzhyphen identifizierte. Damals postulierte Jongmans, dass Bäume mit Hilfe der Pilze direkten Zugriff auf die Nährstoffe in den Steinen haben könnten. 2002 veröffentlichte wiederum »Nature« eine Studie des US-Geologen Joel Blum von der University of Michigan, der gefunden hatte, dass Mykorrhizapilze Kalzium aus dem Bodenmineral Apatit herauslösen können. Zudem konnte er nachweisen, dass Fichten und Tannen dieses Kalzium dann tatsächlich über ihre Wurzeln aufnehmen. »Anstatt das Kalzium aus dem Bodenwasser zu trinken, graben sie gezielt danach«, erklärte Blum das Phänomen. Hildebrand und seine Mitarbeiter gehen jetzt noch einen Schritt weiter. In nächster Zeit wollen sie systematisch für alle Arten von Steinen, die in deutschen Böden vorkommen, bestimmen, wie viele Nährstoffe die Pflanzen daraus gewinnen können. Für typische Gesteinsarten aus den Südschwarzwälder Böden liegen bereits Ergebnisse vor. Je nach Gesteinstyp variieren die gemessenen Nährstoffpotenziale erheblich. Paragneis - eine Gesteinsart, die aus Sandstein und Tonschiefer entstanden ist - kann beispielsweise bis zu 80 Prozent der pflanzenverfügbaren Nährstoffe im Waldboden liefern, Granit bis zu 40 Prozent und Buntsandstein bis zu 10 Prozent. Die neuen Erkenntnisse über die Mykorrhizapilze als Felsenfresser sollen schon bald in die bodenkundliche Praxis einfließen. 2006 sollen bundesweit im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums in einem Raster von acht mal acht Kilometern auf Waldstandorten Bodenproben gezogen werden, um einen Überblick über den aktuellen Zustand der Böden zu bekommen. Die letzte offizielle Bodenzustandserfassung stammt aus den Jahren 1990 bis 1995. Damals wurde nur der Feinboden auf seine Nährstoffgehalte hin analysiert. Jetzt sollen erstmals auch die Steine als potenzielle Nährstofflieferanten mit berücksichtigt werden. Fachkollegen Hildebrands stimmt die Entdeckung der steine-fressenden Pilze nicht ganz so euphorisch. »Das Problem ist, genau zu bestimmen, wie viele Nährstoffe die Steine wirklich liefern können«, sagt Friedrich Beese, Professor für Waldernährung an der Universität Göttingen. Für die Grundlagenforschung seien die Freiburger Ergebnisse jedoch sehr interessant. Dennoch könnten die neuen Erkenntnisse bei Forstwissenschaftlern ein Umdenken einleiten, vermutet Hildebrand. Bislang gehen Forstleute davon aus, dass Nadelbaum-Monokulturen meist nur dann durch Mischwälder ersetzt werden können, wenn der Waldboden zuvor aufwändig verbessert wird. Diese Maßnahme könnte auf Böden, wo die Baumwurzeln an Steine mit hohem Nährstoffgehalt heranwachsen können, in Zukunft möglicherweise entfallen. Der ökologische Waldumbau ließe sich somit kostengünstiger vollziehen. Eins stellt Hildebrand allerdings klar: »Auf das Kalken der Waldböden können wir auch in Zukunft nicht verzichten«, sagt er. Denn die wichtigste Funktion des Kalkens sei es, die Wasserfilterfunktion des Waldbodens zu erhalten. »Für diese Filterfunktion spielen Steine im Oberboden keine Rolle, sie wird allein vom Feinboden geregelt«, so der Forscher. Ohne ausreichend Kalk im Boden sei das Grundwasser, das sich unter Waldstandorten bildet, stark versauert. Bauern mit steinigen Äckern mag Hildebrand allerdings keine Hoffnung machen. »Damit die Pflanzen an die Nährstoffe in den Steinen herankommen, müssen langlebige Symbiosen zwischen Pilzen und Wurzeln etabliert sein«, erklärt er. »Bei den nur einjährigen Acker-Nutzpflanzen gibt es so etwas in der Regel nicht.«
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