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Apparat außer Kontrolle

  • Frank-Rainer Schurich
  • Lesedauer: 6 Min.

Spätestens seit 1990 ist die bundesdeutsche Polizei verstärkt ins Gerede gekommen. Eine Vielzahl von Übergriffen gegen Angehörige von Minderheiten, Journalistenhatz, »Judenfahndungen«, der berüchtigte »Hamburger Kessel«, Repression gegen linke Gruppen, eine bemerkenswerte Untätigkeit bei der Bekämpfung rechter Gewalt, Verharmlosung des Rechtsradikalismus, fremdenfeindliche Einstellungen bei Polizisten sowie Pannenserien wie in Bad Kleinen sorgten in den letzten Jahren auch für internationale Schlagzeilen. Während die Innenpolitiker und Polizeioberen in diesen Fällen abwiegeln, von einzelnen »schwarzen Schafen« schwadronieren (die es überall gäbe) oder die skandalösen Vorfälle plump oder gar gekonnt verharmlosen (wobei sie in der Regel Staatsanwaltschaften und Gerichte auf ihrer Seite wissen), fragt sich die demokratische Öffentlichkeit schon seit einiger Zeit, ob nicht System dahinter steckt.

Dies zu ergründen, hat sich Rolf Gössner vorgenommen. Nach der Lektüre seines Buches wird es zur schaurigen Gewißheit. Der deutsche Polizeiapparat ist kaum noch zu bändigen. Der promovierte Rechtsanwalt und Publizist aus Bremen enthüllt auch, daß die Polizei bundesweit von den Herrschenden mißbraucht wird; sie muß dazu herhalten »die Auswirkungen einer verkorksten Wirtschafts-, Sozial- und Kriminalpolitik ,auszubaden'.

die negativen Folgen der Demontage des Sozialstaates, die prohibitive Drogenpolitik oder die restriktive Ausländerpolitik etc. Zudem hat sie umweltgefährdende oder gefährliche Großprojekte durchzusetzen und dabei auch an der Verweigerung von demokratischen Rechten Betroffener und Protestierenden mitzuwirken.« (S. 23) Gössner verweist auf die eindeutige Tendenz einer Verpolizeilichung des sozialen und politischen Alltags (S. 25).

r meint aber auch, daß die Polizei nicht mehr der monolithische Block wie zu Zeiten des Kalten Krieges sei. Da gibt es die Bundesarbeitsgemeinschaft Kritische Polizistinnen und Polizisten, ehrliche, linksliberale Bedienstete, auch in den Chefetagen. Genannt werden die Polizeipräsidenten Michael Kniesel (ehemals in Bonn), Prof. Hans Lisken (in Düsseldorf amtierend) und Uta Leichsenring (Eberswalde). Dies zu wissen sei zwar ermutigend, aber darf nicht beruhigen. Gössner beweist: Eine demokratiefeindliche Polizei kann sich einige Demokraten leisten, die man ja zur Not abstrafen kann.

»Das Machtkartell (Polizei, Justiz und Politik, d.A.) funktioniert«, heißt es abschließend zum Fall des von der Polizei fast zu Tode geprügelten Journalisten Oliver Neß. Und: »Um die Wahrheit geht es schon lange nicht mehr « Zudem driftet, wie Gössner dokumentiert, der Polizeiapparat mit seinen politikgesteuerten, verhängnisvollen Strukturen immer mehr in geheimpolizeiliche Gefilde ab. »Lügenkonstrukt des Staatsschutzes« heißt der Abschnitt, in dem die Hamburger

Schlapphüte unter die Lupe genommen werden, die versucht hatten, die Autonomen Ralf Gauger und Knud Andresen durch Intrigen lebenslang hinter Gitter zu bringen. Allerdings so dilettantisch, daß selbst eine Kammer des Landgerichts Itzehoe nicht umhin kam, die Methoden der Geheimpolizei als »unerträgliche Manipulation der Wahrheit« zu brandmarken.

Gössner analysiert eine Vielzahl von polizeilichen Übergriffen. Die Palette reicht von großangelegten staatlichen Aktionen samt nachfolgenden Vertuschungsmanövern bis hin zur Privatabschiebung eines Inders durch den 38jährigen Polizisten Harald Eßwein (SPD) aus Speyer mit dem anschließenden Hickhack um dessen Bestrafung. Polizisten wie Hauptkommissar Roland Schlosser aus Landau hingegen, der einen Asylbewerber aus seiner unmenschlichen Haft befreite, spürten recht bald, daß solcherlei Zivilcourage nicht gefragt ist.

Erschreckend Gössners Fazit: Wenn es darum geht, polizeiliche Übergriffe aufzuklären, siegen der Korpsgeist über die Wahrheit, der Gehorsam über Rechtsstaatlichkeit. So ist seine Forderung folgerichtig: Polizeibeauftragte und Polizei-Kontroll-Kommissionen in allen Ländern und auf Bundesebene. Die markansteste Einsicht, nämlich daß der Rechtsruck der Gesellschaft auf der staatlichen Ebene ergänzt, verstärkt und verfestigt wird, ist indes schon in der Mitte seines Buches (S. 136) zu finden: »Denn der starke und autoritäre Staat mit seiner law-and-order-Ideologie steht seinerseits rechts und ist eine der größten Gefahren für die Demokratie eines Landes - zumal wenn es Deutschland heißt.«

In nunmehr schon 7 Auflage erschien im Pahl-Rugenstein Verlag Emil Carlebachs Buch »Hitler war kein Betriebsunfall«. Der ehemalige Widerstandskämpfer, Dachau-.und Buchenwaldhäftling, nach der Befreiung 1945 einer der Herausgeber und Chefredakteure der Frankfurter Rundschau, gewährt Einblicke hinter die Kulissen der Weimarer Republik, zeigt, wie die Nazidiktatur anvisiert und installiert wurde, und mahnt. Während der Vorbereitung der Neuauflage, so Carlebach in seinem Vorwort, »hat sich Entscheidendes ereignet«: »Seit September 1995 befinden wir uns 1 im Krieg! Deutschland ist wieder eine kriegsführende Macht geworden. Und: Von 1992 bis 1994 mehr als 20 000 nazistische Straftaten.« (221 S., geb., 24,80 DM).

A m 3. Oktober 1990 wurde die bun-.Txdesrepublikanische Wehrpflicht auch für junge Männer aus der vormaligen DDR und aus Berlin in Kraft gesetzt. Zwar steht die Entscheidung, den Wehrdienst zu verweigern, in der BRD als eine Gewissensfrage frei, doch muß jeder Wehrpflichtsverweigerer seine Motive nachvollziehbar begründen. Christian Bartolf, Politik- und Erziehungswissenschaftler, Berater für Kriegsdienstverweigerer in einem kirchlichen Büro in Berlin-Spandau, dokumentiert in »Mein Gewissen sagt nein« Begründungen junger Männer, die von ihrem im Grundgesetzt verbürgten Recht Gebrauch machten (Wichern Verlag, 152 S., kart, 22 DM).

In ihrem vierten - und letzten - gemeinsamen Buch »Was ist Philosophie?« versuchten Felix Guattari und Gilles Deleuze eines der wohl schwierigsten Fragen zu knacken. Der Psychoanalytiker Guattari, 1992 gestorben, und der Philosoph Deleuze, 1995 in den Freitod ge-

gangen, unterschieden Philosophie von Wissenschaft und Kunst und meinten: Sie ist weder Kontemplation noch Reflexion, noch Kommunikation; sie ist jene Aktivität, die Begriffe erschafft, die Begriffe erfindet, formt und herstellt. Damit gerate die Philosophie allerdings in gefährliche Nähe zum Marketing - einer Vesuchung, der denn auch so manches zeitgenössische Denken nicht entgeht (Suhrkamp, aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs und Josef Vogl, 260 S., geb., 48 DM).

Die Vereinigung von KPD und SPD vor 50 Jahren wird aus verschiedenen Motiven mit Zwang, Druck und Erpressung »erklärt«, das als eine Art Bahnhofsmission getarnte Ostbüro agierte Jahrzehnte hindurch als Geheimdienstfiliale und soll angeblich nur nach Spuren gesucht haben, wie weiland die britischen Detektive bei der Posträuberjagd. Klaus Huhn, beim Vereinigungsparteitag 1946 anwesend, macht Zusammenhänge transparent: »Zwangsvereinigung -Posträuber - Ostbüro« (spotless, 111 S., br., 9,90 DM).

Danielle Mitterrand schreibt über ihr Leben an der Seite eines der markantesten europäischen Nachkriegspolitiker Ihre im Econ Verlag unter dem Titel »Gezeiten des Lebens« erschienenen Erinnerungen sind die Zeugnisse einer ehemaligen First Lady (335 S., geb., 39,80 DM).

A nschauliche, lebendig geschriebene ixReportagen aus Afrika und kenntnisreiche Analysen der dortigen Situation bieten Dominic Johnson und Willi Germud in »Wie ein Floß in der Nacht« (J.H. W Dietz, 176 S., br., 24,80 DM). Im gleichen Verlag erschien von Hans Hielscher eine Lebensskizze des einstigen Musikers Louis Farrakhan, der zum bekanntesten Schwarzenführer der USA avancierte: »Gott ist zornig, Amerika« (157 S.,br., 19,80 DM).

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