• Politik
  • Krieg zwischen Iran und Israel

Nun scheint alles möglich

Mit dem Krieg gegen den Iran wagt Israel den letzten Schritt zur Neuordnung der Machtverhältnisse

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 8 Min.
Sehen so Sieger aus? Israels Premier Netanjahu steht in Beerscheba vor dem von einer iranischen Rakete getroffenen Soroka-Krankenhaus.
Sehen so Sieger aus? Israels Premier Netanjahu steht in Beerscheba vor dem von einer iranischen Rakete getroffenen Soroka-Krankenhaus.

Wenn ein mit internationalem Haftbefehl gesuchter Regierungschef vorgibt, Menschen eines anderen Landes von einem diktatorischen Regime befreien zu wollen, bleibt unweigerlich ein bitterer Nachgeschmack. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu befiehlt vor einer Woche den Angriff gegen den Iran, lässt Kampfjets Atomanlagen und Raketenstellungen bombardieren und schiebt kurz nach Kriegsbeginn die Aufforderung an die Iraner*innen hinterher, sie sollten sich gegen das islamische Regime erheben.

»Wir machen den Weg frei, damit Sie Ihr Ziel erreichen können: Freiheit«, teilte Netanjahu den Iraner*innen in einer Videobotschaft mit. Der israelischen Regierung geht es somit auch um den Sturz des iranischen Regimes, angeschoben von der israelischen Luftwaffe, zu Ende gebracht von den Iraner*innen selbst. Steckt dahinter ein ausgearbeiteter Plan mit konkreten Schritten zur Umsetzung? Israels Botschafter in Frankreich, Joshua Zarka, erklärte auf Nachfrage am Donnerstag im französischen Nachrichtenkanal France24, »der Sturz des iranischen Regimes ist kein offizielles Ziel dieser Operation«. Dann wäre der nicht mehr auszuschließende Zusammenbruch der Islamischen Republik unter den Bombardements schlicht ein Mitnahmeeffekt der Angreifer, eine Nebenwirkung der Schmerzbehandlung mit Bomben.

Das »böse und repressive Regime« im Iran sei nie schwächer gewesen als in diesem Moment, so Netanjahu weiter. »Das ist Ihre Gelegenheit, sich zu erheben. Lassen Sie Ihre Stimmen hören: Frau, Leben, Freiheit – Zan, Zendegi, Azadi.« Die Menschen in Israel stünden an der Seite der Iraner*innen, wie er selbst auch. Netanjahus pathetische Worte dürften nicht viel Wirkung auf den Großteil der iranischen Bevölkerung haben und nur wenige im Bombenhagel auf die Straße treiben, um gegen die Regierung zu protestieren.

Die seit der sogenannten Islamischen Revolution von 1979 lautstark und großmäulig vorgetragenen Vernichtungsdrohungen in Richtung Israel und das intransparente Atomprogramm, dessen angeblich rein zivile Zwecke von vielen Seiten angezweifelt werden, haben letztlich dazu geführt, dass der Iran sich in einem Einzelkampf mit einem mächtigen Gegner wiederfindet und diesen nur verlieren kann: Israels Armee ist kampferprobt und technologisch der iranischen weit überlegen.

Für die rechte israelische Regierung von Benjamin Netanjahu scheint nun alles möglich. Nach dem brutalen Massaker von Hamas und Islamischem Staat an israelischen Zivilisten und Soldaten am 7. Oktober 2023 schien Israel schwer angeschlagen, der Mythos der Unbesiegbarkeit war beschädigt. Die Reaktion auf die Fehler der israelischen Sicherheitsbehörden, die den Hamas-Angriff erst möglich machten, ist bekannt: ein gnadenloser, genozidaler Krieg mit über 55 000 dokumentierten Getöteten im Gazastreifen, um die Terrormiliz Hamas und ihre Verbündeten zu vernichten sowie die Geiseln zu befreien.

Letzteres ist als Kriegsziel schon lange sekundär. Die israelische Regierung hat sich während des nunmehr 20 Monate währenden Kriegs Schritt für Schritt vorgetastet und ausgetestet, wie weit man mit militärischer Gewalt gehen kann. Dabei können Armee und Geheimdienste zahlreiche Erfolge vorweisen: Mitte September 2024 schalten sie im Libanon zahlreiche Kämpfer der vom Iran unterstützten schiitischen Hisbollah-Miliz aus, indem Tausende mit Bomben präparierte Funkmeldeempfänger, sogenannte Pager, zur Explosion gebracht werden. Nur zehn Tage später tötetet die israelische Armee bei einem Luftangriff auf Beirut Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Bereits Ende Juli 2024 wird Ismail Hanijeh, Chef des Hamas-Politbüros, mitten in Teheran getötet; Mitte Oktober ist Hanijehs Nachfolger Jahja Sinwar an der Reihe. Schließlich stürzt Ende des Jahres völlig unerwartet das Regime von Baschar Al-Assad in Syrien und damit der wichtigste staatliche Verbündete des Iran in der Region.

Irans Hilfstruppen der sogenannten Achse des Widerstands wie Hamas und Hisbollah, die als tragende Elemente der Vorwärtsverteidigungsstrategie Konflikte von iranischem Staatsgebiet fernhalten sollten, sind seitdem entscheidend geschwächt und damit auch die Position des Iran in der Region. In einem Artikel für die israelische Tageszeitung »Haaretz« geht der Autor Jack Khoury sogar so weit zu sagen, eine Achse des Widerstands und ein Bündnis habe es nie gegeben. »Das Ganze sieht eher wie eine geopolitische Fiktion aus, die alle Parteien ausgenutzt haben.«

»Das ist Ihre Gelegenheit, sich zu erheben. Lassen Sie Ihre Stimmen hören.«

Israels Premier Benjamin Netanjahu an die iranische Bevölkerung

Die Neuordnung des Nahen Ostens scheint aus israelischer und auch US-amerikanischer Sicht in greifbarer Nähe, ist mehr als nur ein Denkspiel in der Schublade eines Thinktanks. Die strategische Landschaft des Nahen Ostens mit Gewalt neu zu ordnen, ist eine alte Idee Israels und der USA, die seit mindestens einem halben Jahrhundert in regelmäßigen Abständen als Planspiel wiederbelebt wird, mal ganz offen, häufiger implizit durch die Entwicklung der Ereignisse. In einem analytischen Beitrag der französischen Tageszeitung »Le Monde« vom Oktober 2024 erinnern die Autoren daran, dass Ariel Scharon als israelischer Verteidigungsminister seinen Truppen 1982 befahl, in den Libanon einzumarschieren – nicht nur, um die Kämpfer von Jassir Arafat zu vernichten, die vom Südlibanon aus Anschläge in Israel verübten.

Scharon strebte auch danach, seinen libanesischen Verbündeten Baschir Dschemajel, den Vorsitzenden der parafaschistischen christlich-maronitischen Kataib-Partei (Phalanges), in Beirut an die Macht zu bringen und die syrischen Streitkräfte aus dem libanesischen Gebiet zu vertreiben, das sie seit 1976 besetzt hielten. Israels alter Traum, der bereits in den 1950er Jahren aufkam, war, den Libanon zu zerstückeln und einen christlichen Ministaat zu gründen, quasi als Satellitenstaat des jüdischen Staates. Doch kaum war Baschir Dschemajel zum Präsidenten gewählt worden, wurde er ermordet.

Fantasien einer Neugestaltung des Nahen Ostens tauchten 2003 wieder auf, im Zuge der durch konstruierte »Beweise« gerechtfertigten US-amerikanischen Invasion im Irak. Nach dem Sturz der Diktatur Saddam Husseins machten sich Präsident George W. Bush und die neokonservativen Hardliner in seinem Umfeld zu Fürsprechern einer von außen oktroyierten Demokratisierung – mit dem Ziel, einen »Großen Nahen Osten« zu schaffen, der Israel und den Vereinigten Staaten gegenüber versöhnlicher eingestellt ist. Doch der Sturz des Baath-Regimes von Saddam Hussein brachte den Irak in den Einflussbereich des Iran, und Israels Offensive gegen den Libanon endete mit einem halben Misserfolg.

Dabei will Israel nicht umfassend Grenzen verschieben, allenfalls sich minimal am Staatsgebiet der Nachbarländer wie Libanon, Syrien und Jordanien bedienen. So bombardiert die israelische Armee weiterhin »Terrorziele« im Südlibanon und in Beirut. In Syrien hat die israelische Armee nach dem Sturz des Assad-Regimes syrische Marineschiffe und Armeeeinrichtungen zerstört, auf den Golanhöhen völkerrechtswidrig eine Pufferzone besetzt und gibt sich als Beschützer der Drusen und Kurden, spielt diese Minderheiten so gegen die neue Zentralregierung aus – fatal für den Wiederaufbau in Syrien.

Israel wittert seine Chance, um die Schwäche der Nachbarländer für eigene strategische Ziele auszunutzen. »Der Staat Israel etabliert sich zu einem Machtzentrum in unserer Region, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall war«, sagte Netanjahu. Israel strebt danach, sich mit freundlichen Regierungen zu umgeben – auch mit Gewalt –, um reale oder angebliche Bedrohungen abzuwenden. Dieser Sicherheitsdoktrin wurde und wird außenpolitisch alles untergeordnet. Dafür führen israelische Regierungen Kriege, verletzen regelmäßig mittlerweile fast routinemäßig das Völkerrecht, scheren sich wenig um die Menschen, die im regionalen Umfeld leben. Im Gazastreifen werden menschenfeindliche Verhältnisse geschaffen als Vorbereitung zur Vertreibung der überlebenden Palästinenser, während die Ausweitung illegaler jüdischer Siedlungen im Westjordanland der Annexion den Weg bereitet.

Der Krieg gegen den Iran ist vermutlich der letzte Streich, mit dem Netanjahu bei seiner Bevölkerung punkten kann. Die israelische Öffentlichkeit unterstützt den Angriff gegen den Iran. Das zeigt eine am Donnerstag veröffentlichte Umfrage des Israel Democracy Institute, über die die israelische Tageszeitung »Haaretz« berichtet: Demnach unterstützen 82 Prozent der israelischen Juden den Krieg und den Zeitpunkt dafür. Weitere zehn Prozent sagten, dass sie den Schritt unterstützen, aber glauben, dass der Zeitpunkt falsch gewählt sei. Selbst unter linksorientierten Juden unterstützt eine Mehrheit von 57 Prozent den Angriff auf den Iran.

Die USA und Europa haben sich die Agenda Israels zu eigen gemacht. Netanjahu warnt seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig davor, dass der Iran in ein paar Jahren eine Atombombe haben werde. »Wir hatten keine Beweise für systematische Bemühungen, Atomwaffen zu entwickeln«, sagte jedoch der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), Rafael Grossi, dieser Tage in einem CNN-Interview. Die falschen Vorwürfe, Iran stehe kurz vor der Bombe, werden im Westen kritiklos übernommen und ohne Widerrede ein offener Bruch völkerrechtlicher Bestimmungen hingenommen. Die »Drecksarbeit«, die die israelische Regierung nach den Worten von Bundeskanzler Friedrich Merz auch für »uns« erledige, sagt viel aus über die Interessenkonvergenz zwischen Israel auf der einen Seite sowie Europa und den USA auf der anderen: Israel fungiert als Sachwalter des »zivilisierten Westens« im Wilden Nahen Osten, mithin für die ehemaligen Kolonialmächte der Region. Und eine Neuordnung der Machtverhältnisse liegt offensichtlich auch in deren Interesse – für gute Geschäfte und den freien Fluss fossiler Brennstoffe.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.