Die Würde Fliehender ist antastbar

Am Weltflüchtlingstag werden die Rechte Schutzsuchender beschworen. Zugleich werden sie in der EU seit Jahren ausgehöhlt

Im Krieg spielen ihre Rechte keine Rolle: Kinder im Gazastreifen während einer der zahllosen Evakuierungen vor neuen israelischen Angriffen. 40 Prozent der 122 Millionen Menschen auf der Flucht sind jünger als 18 Jahre.
Im Krieg spielen ihre Rechte keine Rolle: Kinder im Gazastreifen während einer der zahllosen Evakuierungen vor neuen israelischen Angriffen. 40 Prozent der 122 Millionen Menschen auf der Flucht sind jünger als 18 Jahre.

Kürzlich haben Staats- und Regierungschefs aus neun EU-Ländern einen Brief an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geschrieben. Darin beschweren sie sich direkt über dessen Rechtsprechung. Die Unterzeichner*innen finden, dass der Gerichtshof durch seine Urteile Möglichkeiten einschränkt, Geflüchtete abzuschieben oder zu verhindern, dass sie ins Land kommen. Damit gefährde er nicht weniger als die Sicherheit der Gesellschaft.

Diese direkte Missachtung der Gewaltenteilung ist typisch für unsere Zeit und Teil eines Generalangriffs auf die Rechte der Schutzbedürftigsten: jener Menschen, die vor Kriegen – von denen Europas Rüstungsindustrie profitiert –, vor Gewalt und Not fliehen. Von ihnen schaffen es nur wenige nach Europa. Die meisten der laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 122 Millionen Menschen auf der Flucht – fast 40 Prozent von ihnen Kinder und Jugendliche – sind Binnenflüchtlinge.

Dennoch schleift die EU seit Jahren die Rechte Geflüchteter, schiebt von denen, die es in einen Mitgliedsstaat geschafft haben, so viele wie möglich ab und duldet nachweislich illegale Pushbacks. Nur in Sonntagsreden wird an das Leid dieser Menschen erinnert, gern mit Bildern ausgemergelter Kinder in Zeltlagern in Afrika. Und am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, werden neue Daten und Berichte zum Ausmaß der Katastrophe veröffentlicht.

Zugleich wird Flucht und Migration in der EU als »Mutter aller Probleme« diskutiert, wie es Alt-Bundesinnenminister Horst Seehofer einst ausgedrückt hat. Asylsuchende werden pauschal als potenzielle Kriminelle, Gewalttäter, Terroristen, also als Bedrohung für die Gesellschaft dargestellt – so auch in jenem Brief, den mit Dänemarks Regierungschefin Mette Fredriksen eine Sozialdemokratin und mit ihrer italienischen Amtskollegin Georgia Meloni eine Vertreterin einer postfaschistischen Partei initiiert haben. Grund genug für sie, sich nicht nur in die Arbeit der Justiz einzumischen, sondern auch eine »Anpassung« der Europäischen Menschenrechtskonvention an vermeintliche »Erfordernisse« zu verlangen. Schließlich habe es zur Zeit der Verabschiedung des Grundsatzdokuments keine »irreguläre Massenmigration« gegeben.

»Die EU betreibt Politik auf dem Rücken von Kindern auf der Flucht.«

Janneke Stein Save The Children

Während die Bundesregierung das übergriffige Verhalten gegenüber dem EGMR kritisierte, gibt es in den Reihen der Regierungsparteien viele, die ebenfalls finden, dass geltende internationale Menschenrechtsstandards ausgehöhlt werden müssen. Oder dass man EU-Recht, wie im Fall der gerichtlich bestätigt illegalen Zurückweisungen Asylsuchender an deutschen Grenzen einfach ignorieren kann.

Auf EU-Ebene werden derweil mithilfe der beschlossenen Reform des Gemeinsamen Asylsystems (Geas), die in einem Jahr in Kraft treten wird, Nägel mit Köpfen gemacht. Intensiv wird an der Änderung von Gesetzen und Richtlinien gearbeitet, um Schutzsuchende – auch Kinder – an den Außengrenzen des Staatenbündnisses internieren und von dort schnell abschieben zu können. Geprüft wird zudem, wie man Asylverfahren in sogenannte sichere Drittstaaten auslagern und Menschen leichter dorthin abschieben kann. Das will man auch dann für zulässig erklären, wenn die Betroffenen zu dem Land keinerlei Bezug haben. Bisher dürfen Menschen nur in Drittstaaten »verbracht« werden, wenn sie dort Angehörige oder sich länger dort aufgehalten haben. Die EU-Kommission strebt an, dass sie künftig auch dann in solche Länder »überstellt« werden dürfen, wenn sie dort nur kurz durchgereist sind oder der abschiebende EU-Staat ein Aufnahmeabkommen mit ihnen geschlossen hat. Solche Verträge gibt es allerdings noch nicht, und es bleibt abzuwarten, ob es zum Abschluss solcher – für die EU sehr teurer – Vereinbarungen kommen wird.

Ein am Mittwoch veröffentlichter Bericht der international agierenden Hilfsorganisation Save the Children zeigt, dass die EU bei ihrem gegenüber Geflüchteten immer härteren Agieren auch vor Kindern nicht haltmacht. Sie sind demnach an den Außengrenzen des Staatenbundes »systematischen Misshandlungen, Inhaftierungen und anderen Rechtsverstößen« ausgesetzt. Mit dem Inkrafttreten der Geas-Reform könne sich die Situation noch einmal verschärfen, sagte Janneke Stein, Expertin für Flucht und Migration bei Save the Children. In dem Report schildern Kinder und Jugendliche ihre Erfahrungen mit Zurückweisungen, Inhaftierungen, Gewalt und Einschüchterungen.

»Die Europäische Union betreibt Politik auf dem Rücken von Kindern auf der Flucht«, sagte Janneke Stein. Sie verletze damit europäische Grundwerte. Durch die mit der Geas-Reform geplanten Maßnahmen, also Asylverfahren an den Außengrenzen bzw. in Deutschland an Flughäfen, könnten die Schutzrechte von Kindern noch mehr unter die Räder kommen, »kindspezifische Fluchtgründe« durch Eilverfahren nochmals schwerer erkannt werden. Als Beispiele nannte Stein drohende weibliche Genitalverstümmelung oder Zwangsrekrutierung als Kindersoldat*innen.

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