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Kriegsdienstverweigerer ausgeliefert: Gericht gegen Grundrecht
Durch einen Beschluss des Bundesgerichtshofs sehen viele das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Gefahr
Die Friedensbewegung ist in Aufruhr. Grund dafür ist ein Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH), des obersten Gerichts der Bundesrepublik für Straf- und Zivilverfahren. Der BGH entschied, dass ein ukrainischer Kriegsdienstverweigerer an sein Heimatland ausgeliefert werden darf, obwohl ihm dort der Dienst an der Waffe droht: Eine Auslieferung sei trotz Verweigerung aus Gewissensgründen möglich, wenn das Herkunftsland völkerrechtswidrig angegriffen wird und dort kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung herrscht. Anders als in der Ukraine ist hierzulande im Grundgesetz geregelt, dass niemand »gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden« darf. Trotzdem urteilte der BGH: Auch in Deutschland könne das Kriegsdienstverweigerungsrecht »in außerordentlicher Lage« aufgehoben werden, etwa wenn Deutschland angegriffen wird.
Sägt der Bundesgerichtshof am Recht, den Kriegsdienst zu verweigern?
»Das Urteil ist skandalös und zeigt eine bedenkliche ›Zeitenwende‹ innerhalb der Justiz, die sich scheinbar auch in die von der Regierung ausgerufene ›Kriegstüchtigkeit‹ einreihen will«, sagt Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Martin Singe, Redakteur der Zeitschrift »Friedensforum«, fürchtet: »Der Gesetzgeber könnte nun mit Berufung auf den BGH-Beschluss entscheiden, das Kriegsdienstverweigerungsrecht für den Ernstfall für ungültig zu erklären.«
Das »nd« hat eine Reihe von Rechtsexperten zu dem Fall befragt. Wie blicken diese auf den Beschluss? »Der BGH liegt total falsch«, sagt Kathrin Groh, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr München. Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung sei »abwägungsfest«, könne also nicht zugunsten der Verteidigung des Staates eingeschränkt werden. Bei anderen Grundrechten sei dies durchaus möglich. Groh verweist auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die bestätigen, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gerade auch im Kriegsfall gelte. »Alles andere würde ja auch überhaupt keinen Sinn machen.«
Experte*innen zum Beschluss: »Total falsch«, »angreifbar«, »nicht zutreffend«
Stefan Oeter ist Rechtsprofessor an der Universität Hamburg. Er bezeichnet den BGH-Beschluss als »angreifbar«. Die Behauptung, dem Grundgesetz sei nicht zu entnehmen, dass das Kriegsdienstverweigerungsrecht uneingeschränkt gilt, »sei eine steile These«. Auch Robert Esser, Professor für Strafrecht an der Universität Passau, sagt gegenüber »nd«: »Ich denke, dass der BGH die Lage im deutschen Verteidigungsfall nicht zutreffend einschätzt.«
Alle befragten Experten verweisen darauf, dass der BGH überhaupt nicht am Recht auf Kriegsdienstverweigerung rütteln kann, schließlich sei das Bundesverfassungsgericht für Belange des Grundgesetzes zuständig. Müssen sich also – zumindest deutsche – Kriegsdienstverweigerer keine Sorgen machen?
»Ich wäre entspannt – wir sollten alle mal den Ball flach halten«, sagt Groh. Ihr Kollege Oeter verweist darauf, dass sich der Beschluss mit einem Auslieferungsersuchen der Ukraine befasst; der Bezug zu Deutschland sei lediglich ein »Orbiter Dictum«, eine beiläufige Bemerkung des Gerichts, »die auf die Rechtslage keine Entscheidungskraft« hat. Solchen nebensächlichen Äußerungen sollte man seiner Meinung nach keine zu große Bedeutung beimessen.
»Ich wäre entspannt – wir sollten alle mal den Ball flach halten.«
Kathrin Groh Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr München
Allerdings: Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss kann nicht eingereicht werden. Das hätte lediglich dem betroffenen Ukrainer zugestanden, der sich dagegen entschieden hat, so Groh. Die Rechtswissenschaftlerin sagt: »Gegen das Urteil selber und was darin gesagt wurde, kann leider niemand etwas machen.« Während sie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung weiterhin durch die bisherigen Urteile des Verfassungsgerichts umfassend geschützt sieht, verweist Strafrechtsprofessor Esser darauf, dass diese Entscheidungen bereits viele Jahre zurücklägen, abweichende Schwerpunkte gehabt hätten – und vor allem in Friedenszeiten ergangen seien. »Die für den hypothetischen Verteidigungsfall im Falle eines Angriffs auf Deutschland vom BGH bemühten rechtlichen Szenarien sind alles andere als verfassungsrechtlich geklärt«, so Esser.
Nur noch schnell den Kriegsdienst verweigern
Wie Schulze von Glaßer von der DFG-VK spricht auch er von einer Zeitenwende beim Recht auf Kriegsdienstverweigerung, die der BGH »unter dem Druck der derzeitigen weltpolitischen Lage« vollzogen hat – jedenfalls für Auslieferungsverfahren.
Doch selbst wenn der Beschluss des BGH das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Deutschland nicht unmittelbar einschränkt – die Art und Weise, wie über Anträge auf Verweigerung entschieden wird, kann die Bundesregierung durch ein einfaches Gesetz ändern. Einmal anerkannt, bleibt die Anerkennung der Verweigerung auch im Kriegsfall bestehen, erklärt Grohe von der Universität der Bundeswehr in München. Ist es also ratsam, zügig den Kriegsdienst zu verweigern – noch vor einem etwaigen Kurswechsel? »Bis jetzt habe ich noch nicht gehört, dass das Verfahren geändert werden soll«, sagt die Juristin. Grohe meint: »Wenn man gerne weiter unter dem Radar segeln möchte und kein Signal senden möchte, sollte man im Moment wirklich gar nichts tun.« Schließlich gebe es bislang kein Verzeichnis mit möglichen Kandidat*innen für den Dienst an der Waffe.
Das entspricht auch den Empfehlungen der DFG-VK. »Aktuell empfehlen wir Zivilist*innen, eine Verweigerung durchaus vorzubereiten, sie aber noch nicht abzuschicken«, sagt Schulze von Gaßler. Trotzdem habe der Beschluss des BGH eine interne Debatte zu den Empfehlungen angestoßen. Am Wochenende soll weiter diskutiert werden. Dann veranstaltet die DFG-VK einen bundesweiten Kongress »gegen einen neuen Wehrdienst – und für die Verweigerung aller Kriegsdienste«.
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