- Politik
- 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch
BGB-Reformierung ist überfällig
Von Rechtsanwalt Prof. Dr. sc. jur. Joachim Göhring
Zu den Veränderungen, mit denen die Bürger der DDR seit dem 3. Oktober 1990 leben, gehört das von da an wieder gesamtdeutsch geltende Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Am 1. Juli 1896 vom Deutschen Reichstag angenommen, wurde es vor genau 100 Jahren, am 18. August 1896, vom Kaiser verkündet. In Kraft trat es mit dem 1. Januar 1900. In der entscheidenden Sitzung des Reichstages stimmten die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei einheitlich mit »Nein«, was - wie den heute noch mit Gewinn nachlesbaren Begründungen durch August Bebel entnommen werden kann (1) - nicht totale Ablehnung, wohl aber Unzufriedenheit mit einigen Teilen des Gesetzeswerkes bekunden sollte.
Keiner Diskussion bedurfte und bedarf es, daß der sich im 19 Jahrhundert in Deutschland stürmisch entwickelnde Kapitalismus eine einheitliche Regelung der Eigentums-, Vermögens-, Arbeits- und Familienbeziehungen benötigte. Frankreich hatte bereits 1804 mit dem noch heute geltenden Code civil (Code Napoleon), »dem klassischen Gesetzbuch der Bourgeoisgesellschaft« (2), ein Beispiel gegeben. Der spezifischen Entwicklung in Deutschland ist es geschuldet, daß man knapp ein Jahrhundert später nachzog.
Von Bedeutung war und ist aber weiterhin, wie diese Aufgabe gelöst wurde.
Die ursprüngliche Kritik der Sozialdemokratie bezog sich auf Punkte, die noch heute aktuell sind. Das gilt u.a. für das Mißverhältnis zwischen den geregelten Bereichen. Hunderte von Paragraphen regeln z.B. die Grundstücksbelastungen, das eheliche Güterrecht und das Erbrecht (allein 461 Paragraphen), der Dienstvertrag zur Regelung auch für alle Arbeitsverhältnisse der Arbeiter und Angestellten mußte hingegen mit nur 20 Paragraphen auskommen. Und bis heute ist es nicht gelungen, die Vielzahl der arbeitsrechtlichen Einzelregelungen und die unübersehbare Fülle rechtsfortbildender Urteile zu einem einheitlichen Arbeitsrecht - innerhalb oder außerhalb des BGB - zusammenzuführen. Der Auftrag des Einigungsvertrages, diese Materie »möglichst bald einheitlich zu kodifizieren« (Art. 30, Abs. 1, Ziff. 1), ist mittlerweile auch schon wieder vergessen.
Bereits in dem Entwurf des BGB wurde die allgemeine Regelung des Mietrechts nicht den spezifischen Anforderungen an ein Wohnungsmietrecht für die große Mehrheit der Bürger gerecht. Angenommen wurden trotz des »Neins« der Sozialdemokratie u.a. auch die benachteiligenden Regelungen betreffend nichteheliche Geburt - ein beschämender Zustand im Erbrecht, der noch immer nicht völlig überwunden ist.
Kritik erfuhr seinerzeit auch die Sprache des BGB und seine „labyrinthische“ Struktur, wie der DDR-Rechtsphilosoph Hermann Kienner schrieb. Helmut Köh-
ler (Augsburg) wiederum nennt es in seiner Einführung zur Jubiläums-Sonderausgabe des BGB ein »Gesetz von Juristen für Juristen« (3).
Dennoch: Seinerzeit wirkte das Bürgerliche Gesetzbuch insofern progressiv, als es in wesentlichen Teilen die Rechtszersplitterung im Deutschen Reich beseitigte und einen Rahmen für die Gestaltung der kapitalistischen Gesellschaft schuf. Es besaß einen gewissen Modellcharakter Andere Staaten entschlossen sich zu mehr oder weniger vollständiger Übernahme der im BGB enthaltenen Regelungen, so Japan, die Schweiz und die Türkei, Brasilien und Griechenland.
Das vor 100 Jahren angenommene BGB ist freilich nicht mehr identisch mit der heute geltenden Fassung. Zwar haben sich die Paragraphen 1 bis 2385 behauptet, doch hat sich ihnen eine Fülle von Paragraphen hinzugesellt (ergänzend mit Buchstaben bezeichnet). Hinzu kommen kaum noch zu zählende Textänderungen und -ergänzungen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden durch die Rechtsprechung, das sogenannte „Richterrecht“, etliche Fortbildungen vorgenommen; das Parlament brauchte nicht über eine Gesetzesänderung abzustimmen. Dieses Verfahren ist fester Bestandteil der Rechtsordnung. Als ein Beispiel sei hier der unscheinbare Paragraph 242 BGB zu nennen, der auf die Erfüllung nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte orientiert. Dieser „königliche“ Paragraph (so Ernst Fuchs
bereits 1926) wurde zum Fundament eines ganzen Gebäudes von juristischen Konstruktionen, mit denen Gerichte in bestehende Rechtsverhältnisse konkretisierend, ergänzend, Schranken setzend und korrigierend eingegriffen haben. In diesen Zusammenhang gehört die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage. Weitere Konstruktionen, mit denen man über Jahrzehnte arbeitet, ohne sie gesetzlich zu verankern, sind z.B. die allgemeine Verantwortlichkeit für Pflichtverletzungen in Verträgen (positive Vertragsverletzung), die Verantwortlichkeit für Pflichtverletzungen beim Vertragsabschluß („Culpa in contrahendo“) usw
Die Fassung des BGB mit einer Fülle von allgemeinen Rechtsbegriffen ließ und läßt eine Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse zu. Derart erklärt sich auch, daß es verschiedenen Herren dienen konnte: Es galt im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im faschistischen Deutschland, in der DDR und der alten BRD, und es gilt nun in der vereinigten Bundesrepublik. Die entscheidenden gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR, mit deren Rückgängigmachung man noch jetzt befaßt ist, vollzogen sich unter der Gültigkeit des BGB. Erst ab dem 1. Januar 1976 galt das Zivilgesetzbuch (ZGB), das unbestreitbar enger als das BGB war Es beschränkte sich im Kern auf die Alltagsbeziehungen der Bürger Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht, Bodenrecht, Familienrecht etc. wurden weitgehend in eigenen Gesetzbüchern geregelt. Dennoch war auch nie zu übersehen, daß das ZGB ein Kind des BGB war So konstatierte der Ostrechtsforscher Klaus Westen: „Dabei ist zugunsten des ZGB anzumerken, daß es, bei aller Kürze und bei aller Eigenwilligkeit der Systematik im Hinblick auf Vollständigkeit... kaum gravierende Lücken aufweist. Auch andere Vorzüge des ZGB, wie eine größere Verständlichkeit und eine geringere Kompliziertheit, sollten ebenso wenig unerwähnt bleiben wie der Umstand, daß das ZGB durchaus
auch in der Tradition deutscher Zivilrechtsentwicklung steht. Das wird u.a. dadurch sichtbar, daß es Rechtsfiguren, die unter der Geltung des BGB entwickelt worden sind, gesetzlich normiert hat, wie den Wegfall der Geschäftsgrundlage..., die positive Vertragsverletzung... oder die culpa in contrahendo... Auch in anderer Hinsicht weist das ZGB im Verhältnis zum BGB durchaus Züge eines modernisierten Zivilrechts auf.“ (4)
Sicher, das ZGB wäre nicht geeignet gewesen, nach der Vereinigung in ganz Deutschland das BGB zu ersetzen. Doch hätte es während des Einigungsprozesses zum Anlaß genommen werden können, ja müssen, auch in der Bundesrepublik bereits überfällige gesetzgeberische Schritte zu gehen. Ein »modernes Zivilgesetzbuch des demokratischen Sozialstaats Bundesrepublik steht noch aus«, bemerkte treffend Herwig Roggemann (FU Berlin) bereits 1977 (5).
Ein so umfassendes Gesetz wie das BGB kann nicht im Schnelldurchlauf reformiert werden, doch sollten schon jetzt erkannte Mängel überwunden, statt vertieft werden. Das betrifft inhaltliche Fragen wie auch Systematik, Sprache, Verständlichkeit - damit es eben nicht ein »Gesetz von Juristen für Juristen« bleibt.
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