Krankheit oder Einbildung?

Jeder 18. Patient beim Allgemeinarzt ist ein Hypochonder

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Zwar ist Moliéres Bühnenstück »Der eingebildete Kranke« ein Lustspiel, doch die Realität so genannter Hypochonder ist alles andere als lustig. Ständig kreisen ihre Gedanken darum, krank werden zu können oder es zu sein.
Der Alltag eines Hypochonders wird bestimmt vom Konsum einschlägiger Gesundheitslektüre, von häufigen Arztbesuchen und oft vom ständigen ausführlichen Reden über warnende Körpersignale, die in Zusammenhang mit vermeintlich ernsthaften Krankheiten stehen. Während das Lesen vielleicht noch Erkenntnisgewinn bedeutet, ist alles andere mehr als enttäuschend. Ärzte, die partout den differenziert geäußerten Verdacht auf eine bestimmte Krankheit nicht bestätigen wollen, werden sehr schnell als verständnislos oder gar dumm eingestuft. Hypochonder wechseln deshalb gern ihre Ärzte und nehmen die Leistungen der Gesundheitssysteme mindestens drei Mal so häufig in Anspruch wie andere Kranke, hat der amerikanische Psychiater Arthur Barsky bereits vor Jahren ermittelt. Menschen, die sich pausenlos mit körperlichen Beschwerden befassen, müssen darüber hinaus mit unwirschen Reaktionen eines genervten Umfeldes rechnen. Rückzug, Isolation und sozialer Abstieg drohen. »Das Ende ist charakterisiert durch ein schier hoffnungsloses Versinken in der eigenen Krankheitswelt«, so Prof. Volker Faust, Psychiater der Universität Ulm. Ungeachtet einer solch tragischen Entwicklung wird der Begriff Hypochonder als abwertend, bisweilen auch als Schimpfwort gebraucht. Fachleute wie Dr. Hans Morschitzky, Linz, plädieren deshalb für Bezeichnungen wie »Krankheitsangst« oder »Gesundheitsangst«. Damit tun sich andere wiederum schwer, die der Definition folgen wollen, dass Angst eine Reaktion auf äußere Reize, nicht aber auf Gegebenheiten des Körpers sei. Wie dem auch sei, Hypochondrie ist ein komplexes Phänomen. Sie steht nicht nur in Verbindung zu Ängsten, sondern auch zu Zwängen, mal tritt sie alleine auf und wird als nicht therapierbar eingestuft. Häufiger aber steht sie in Zusammenhang mit Depressionen und Neurosen. Man glaubt, dass eine Behandlung dieser Störungen mittels Medikamenten und Gesprächstherapie auch die Hypochondrie verschwinden lässt. Nach offizieller Definition gelten solche Menschen als Hypochonder, die mindestens seit sechs Monaten unerklärliche körperliche Symptome oder funktionelle Einschränkungen haben. Als brauchbare Behandlungsmethode hat sich bislang die Verhaltenstherapie bewährt. Die Crux dabei ist: Hypochonder konzentrieren sich wegen der eingebildeten Krankheit eher auf Allgemeinärzte als auf Psychologen und Psychiater. Ärzten kommt damit eine große Bedeutung beim Aufspüren von Hypochondern zu. Immerhin schätzt die Weltgesundheitsbehörde WHO, dass jeder 18. Patient in der Allgemeinpraxis eine hypochondrische Störung aufweist. Ärzte aber, das hat vor drei Jahren Prof. Hans-Ulrich Wittchen an der TU Dresden gezeigt, sind wenig sensibilisiert für Angststörungen. Zwei von drei Angstgeplagten kommen so nicht in den Genuss einer adäquaten Behandlung. Die Ursachen für Hypochondrie sind weitgehend unklar. Angenommen wird, dass sie häufig in der Kindheit liegen. So macht Brian Fallon von der Columbia University in New York überfürsorgliche Mütter verantwortlich, die sich auf jedes körperliche Symptom stürzen. Kinder lernen dann, dass man Aufmerksamkeit und Liebe bekommt, wenn man krank ist. Arthur Barsky hat herausgearbeitet, dass sich in der Biografie von Hypochondern verstärkt Situationen von Missbrauch und Gewalt finden. Auch der Verlust geliebter Menschen kommt als Ursache in Betracht. Gemeinsam mit David Ahern hat Barsky im März dieses Jahres ein neues Behandlungskonzept vorgestellt, mit dem beide bei 102 Patienten deutliche Erfolge erzielten. Die Behandlung kommt mit sechs Gesprächen über anderthalb Stunden aus und korrigiert die fehlerhaften Symptomzuordnungen und Ansichten der Betroffenen bezüglich Gesundheit und Krankheit. Sie gibt Anregungen, das eigene Krankheitsverhalten zu überdenken und bietet Techniken, um die Aufmerksamkeit und Ablenkung zu steuern. Wichtig im Umgang mit Hypochondern ist das rechte Maß zwischen Zuwendung und Ignorieren. »Die Patienten sollten die Sicherheit bekommen, dass der Arzt sich kontinuierlich um ihre Gesundheit kümmert und sie auf ihre Beschwerden hin untersucht«, sagt Prof. Karl Köhle von der Universität Köln. Dazu müssten verbindliche Termine vereinbart werden. Offen müsse man als Arzt aber stets dafür bleiben, dass sich hinter dem geäußerten Verdacht tatsächlich eine körperliche Krankheit verbirgt, die bei unzureichender Diagnostik möglicherweise übersehen wird. Wolfgang Kappler
INFO - H. Morschitzky: Somatoforme Störungen Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Organbefund, Springer Verlag, 267 S., 38 Euro Winfried Rief, Wolfgang Hiller: Somatisierungsstörung und Hypochondrie, Hogrefe Verlag, 88 S.,19,95 Euro

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