- Politik
- Erinnerung an Else Ury: eine Lesung in Berlin
Nesthäkchen im KZ
Nur ein Koffer ist von ihr geblieben und die Bücher natürlich: Else Ury (1877-1943), Urheberin von zwölf Bänden »Nesthäkchen«-Idylle - oft geschmäht und dennoch viel gelesen, war eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen der Weimarer Republik. Weniger bekannt ist, daß die in einer deutsch-nationalen, kaisertreuen Familie aufgewachsene Berlinerin Jüdin war. Und so wurde sie 1935 aus »rassischen Gründen« aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und am 12. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert. Dorf endete sie einen Tag später in der Gaskammer. Das Leben der Else Ury und ihr Ende standen im Mittelpunkt von Gespräch und Lesung vergangene Woche in der Berliner KulturBrauerei. Marianne Brentzel hatte der Autorin in ihrem Buch »Nesthäkchen kommt ins KZ« nachgespürt, konnte jedoch zunächst nicht exakt benennen, wann und wie Else Ury starb. Dies haben Berliner Gymnasiasten herausgefunden, die 1994 im Archiv des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz eine Liste mit 108 Namen in die Hand bekamen und gebeten wurden, in Berlin den Lebensspuren dieser Menschen nachzugehen. Auf der Liste stand auch der Name Else Ury, deren »Nesthäkchen« die Mädchen kannten. Sie setzten sich schließlich
mit Marianne Brentzel in Verbindung und teilten der Biographin ihre Entdeckung mit. Ihr bestätigt der exakte Nachweis der Vernichtung des Lebens von Else Ury vor allem, daß faschistischer Größenwahn jene keineswegs verschonte, die von früh an deutsch-national erzogen waren und sich im Leben wie in ihren Werken konservativen Werten verbunden wußten.
Der Koffer der Ury kommt übrigens leihweise für zwei Jahre nach Berlin. Er soll im Haus der Wannsee-Konferenz symbolhaft an das Schicksal dieser Berliner Jüdin erinnern. Die Gymnasiasten sind hiervon nicht begeistert: Alle diese Koffer, so argumentieren sie, sollten in Auschwitz bleiben. Sie seien das einzige, was dort die schreckliche Vernichtung von Millionen Menschen eindrücklich belegt. - Schade, daß ihr Unbehagen nicht zum Anlaß genommen wurde, um nach unserem Umgang mit deutscher Vergangenheit zu fragen, danach zum Beispiel, wieviel Anschaulichkeit und Symbolkraft ein einziges Erinnerungsstück vermitteln kann, inwiefern wir uns selbst betrügen, wenn wir ein solches Dokument über Jahrzehnte hin mit emotionaler Wirkung belasten.
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