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Von wegen »ruhiger Osten«

  • Lesedauer: 4 Min.

Vor dem Heckert-Werk, Spätherbst 1996

Foto: Wolfgang Schmidt

Im Visier der Kundgebung sollen neben der Senkung von Vermögenssteuer, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen auch die Erhöhung der Rezeptgebühren, die geplante Besteuerung von Nacht- und Schichtzuschlägen, fehlende Ausbildungsplätze und der Wegfall von ABM-Plätzen stehen. »Der sonst so ruhige Osten, wo alles ertragen wird, ist Vergangenheit«, prophezeit Jürgen Stäbener. Immerhin hat sich die »Tagesschau« schon angekündigt, und als besonderer Clou wird ein Bus mit 25 Kohlekumpeln aus dem Ruhrgebiet erwartet, von denen einer auf der Kundgebung reden soll.

Der DGB-Kreis Chemnitz zählt 100 000 Mitglieder und verbucht Zuwachs, diese Stärke sei ein »Faustpfand«, glaubt Stäbener. Er baut auf die Zusammenarbeit mit Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Parteien, insbesondere die Landtags-Opposition von SPD und PDS. Die »Bürgerinitiative Soziales Sachsen« (BISS) wiederum, die vor allem gegen zu hohe Abwasserabgaben mobil macht, hat im Chemnitzer Land eine ihrer Hoch-

burgen: Über zehn Prozent der Wahlbe-rechtigten unterschrieben hier einen landesweiten Volksantrag für die Änderung der Gemeindeordnung. Insgesamt 115 000 Unterschriften haben die Initiatoren unlängst dem Landtagspräsidenten Erich Iltgen (CDU) übergeben.

Was vor zwei Jahren mit Montagsdemonstrationen vor dem Landratsamt in Glauchau begann und in ganz Sachsen entsprechende Bürgerinitiativen hervorgebracht hat, wird nun erneut den Landtag beschäftigen. Für die CDU hat deren Fraktionsvorsitzender Fritz Hähle schon kundgetan, daß die im Volksantrag geforderte verbindliche Information der Bürger bei abgabenträchtigen Investitionsvorhaben schon heute gesetzliche Pflicht ist. Das stimmt, geht aber am Anliegen der Volksantragsteller vorbei.

Denn eigentlich sollte der von SPD, PDS, Bündnisgrünen, FDP und DSU unterstützte Vorstoß das Kommunalabgabengesetz aus den Angeln heben. Weil das aber rechtlich nicht möglich ist, wurde der Umweg über die Gemeindeordnung genommen. BISS ist für DGB-Mann Stäbener Teil der »sozialen Bewegung in der Region«, und so habe man »alle

Scheuklappen beiseitegeschoben«. Tatsächlich ist der Aufmarsch in Chemnitz in jeder Hinsicht politisch kühn: Während öffentlich vorgerechnet wird, daß der Bund die Summe, die er entgegen ursprünglicher Absicht der Steinkohle-Subventionierung zugeschlagen hat, jetzt bei Sanierung ostdeutscher Braunkohle-Alttagebaue einsparen will, setzt der DGB auf West-Ost-Solidarität.

Deren Basis wird immer brüchiger BISS hat in einem offenen Brief an Ministerpräsident Kurt Biedenkopf die »deutsch-deutsche Ungerechtigkeit« angeprangert, daß ein sächsischer Vier-Personen-Haushalt jährlich 2000 Mark für Trink- und Abwasser aufzubringen hat, während es im oberfränkischen Kulmbach nur 700 DM seien. Seit einem halben Jahr wartet BISS-Vorsitzender Lothar Seidel auf eine Antwort. Immerhin hatte Biedenkopf im Sommer 1995 in Glauchau vor 5000 Menschen versprochen, niemand solle mit mehr als acht Mark pro Kubikmeter Wasser und Abwasser belastet werden.

Tatsächlich zahle man beispielsweise in Glauchau 12,65 DM und im Weißeritzkreis 13,46 DM, klagt BISS. Den Brief

werde Biedenkopf gleichwohl nicht beantworten, teilte die Staatsregierung auf Anfrage des SPD-Abgeordneten Johannes Gerlach mit. Eine Antwort haben dagegen Tausende Bauarbeiter, die nicht nur in Berlin, sondern auch in Dresden gegen Billiglohn-Verdrängungswettbewerb demonstriert haben, bereits vor ihrem Protest erhalten: Sachsens CDU-Wirtschaftsminister Kajo Schommer hat stets den Mindestlohn von 15,64 DM auf dem Bau abgelehnt und Ministerpräsident Biedenkopf die Leute im Erzgebirge gelobt, die für weniger Geld »ihr Land aufbauen«. So stürzen sich reihenweise kleine Baufirmen mit elf, zwölf Mark Bruttostundenlohn in den Überlebenskampf.

Als tausend Braunkohlekumpel vor der Sächsischen Staatskanzlei gegen den Abbau der Bundesmittel für die Tagebau-Sanierung protestierten, verteilte »König Kurt« wieder Komplimente, weil die Demonstranten im Gegensatz zu ihren westdeutschen Kollegen keine Autobahnen blockiert hätten. Der Sturm auf die Bannmeile in Bonn, mit dem die Ruhrgebietskumpel für Furore sorgten, wurde vom Protestzug aus dem Osten nicht nachgeahmt. Die Gewerkschaft könne Proteste nicht befehlen, kommentierte Hans Berger, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) und SPD-Bundestagsabgeordneter, die grö-ßere Zurückhaltung.

Dabei hatte die IGBE einst den hungerstreikenden Kalikumpeln in Bischofferode unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß sie dem in betriebswirtschaftlicher Hinsicht unrentableren west-

deutschen Kalibergbau den Vorrang vor ostdeutschen Gruben einräumt. Das gleiche Spiel wird nun bei der Kohle fortgesetzt: Für die volkswirtschaftlich umstrittene Subventionierung der Steinkohle wird Geld aufgetrieben, während an der Vorbereitung neuer Infrastruktur in ostdeutschen Tagebauwüsten gespart werden soll. Auf eine andere Ursache des deutsch-deutschen Ungleichgewichts hat die PDS-Landtagsabgeordnete Maria Gangloff dieser Tage hingewiesen: Einen Antrag der PDS-Fraktion, keinerlei Kürzung der Sanierungsmittel zu akzeptieren, hat die CDU-Landtagsmehrheit abgelehnt.

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