- Politik
- »Archipel GULag« - Die Stalinschen Straflager
Eckpfeiler der Sowjetwirtschaft?
Von Wolfgang Rüge
Die Geschichte der sowjetischen Straf-(Arbeits-)Lager, die von 1934 bis 1956 sämtlich der Hauptverwaltung der Lager (Glawnoje Uprawlenie Lagerej = GULag) des NKWD/MWD unterstanden, ist nur unzulänglich erforscht. Die Archive sind zumeist - noch - gesperrt, so daß die diesbezügliche wissenschaftliche Literatur (vorwiegend amerikanische, jüngst auch, z.T von der Gedenkvereinigung »Memorial« gefördert, auch russische) trotz der Vielzahl meist sehr persönlicher Erlebnisberichte Betroffener große Lücken aufweist. Das betont auch Stettner, wissenschaftlicher Referent im Deutschen Bundestag, der diese Literatur minutiös ausgewertet hat (über 1700 Fußnoten!) und seine Untersuchung wegen der zahlreichen noch offenen Fragen vor allem als »einen Impuls für die (weitere) Forschung« versteht.
Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht die Organisationsgeschichte des sowjetischen Strafvollzugs. Wenngleich die Lager im Untertitel des Buches - was sie zweifellos in erster Linie waren - als »Terrorinstrument« bezeichnet werden, so verzichtet Stettner doch auf eine präzise Definition des Terrors als Verfolgung
persönlich unschuldiger Menschen wegen ihrer tatsächlichen, potentiellen oder vermuteten Zugehörigkeit zu bestimmten politischen, sozialen, nationalen oder religiösen Gruppen und widmet der daraus resultierenden Verunsicherung, Einschüchterung und Lähmung breitester Bevölkerungsschichten nur geringe Auf : merksamkeit. Dabei waren es vorrangig diese Auswirkungen des Terrors, die in der Sowjetunion zum Erlahmen des schöpferischen Denkens, zu Initiativlosigkeit und Verweigerung führten und den schließlichen Zusammenbruch vorbereiteten. Die gesellschaftlichen Konsequenzen der akribisch geschilderten Erscheinungen werden von Stettner umgangen, ihre eigentliche Bedeutung somit nicht klargestellt.
In den Überlegungen des Autors spielen auch weder die Legitimität der von jedem Staat zu betreibenden Verbrechensbekämpfung eine Rolle noch die durch Bürgerkriegswirren, Entbehrungsjahre und kriegsbedingte Verrohung hervorgerufene hohe Kriminalität in der UdSSR. Bezeichnend ist, daß Stettner nicht auf das zahlenmäßige, die tatsächlichen Terroropfer ausweisende Verhältnis von inhaftierten sog. Politischen (meist nach Artikel 58 Verurteilten), Berufsverbrechern und »Bytowiki« (mit unangemessen hohen Strafen belegte Ge-
legenheits-Straftäter) eingeht und im Zusammenhang mit den Kriminellen lediglich deren »privilegierte Stellung« hervorhebt, die sie u.a. der Begünstigung durch die Lagerleitungen verdankten. Zu dieser Bevorzugung muß der Rezensent, der selbst 15 Jahre im Lager verbracht hat, indes anmerken, daß sie zwar tendenziell vorhanden war, sich jedoch nur beschränkt durchsetzten konnte, weil die zur Planerfüllung verpflichtete Lageradministration in der Regel darauf bedacht war, wenigstens minimale Existenzbedingungen für die arbeitswilligeren und qualifizierteren »Politischen« und »Bytowiki« zu sichern. Überhaupt ist es Stettner, der zwar einzelne gravierende Probleme des Häftlingsdaseins (z.B. die drakonische Koppelung der Verpflegungssätze an die Normerfüllung) benennt, nicht gelungen, ein adäquates Bild des Lageralltags und der Rivalitäten einzelner Dienststellen (Produktionsressort, operative/Tscheka-/ Abteilung, Wachkommandos usw.) zu vermitteln.
Zutreffend stellt er fest, daß das Lagersystem seit 1928/30 nicht nur völlig neue Ausmaße erreichte, sondern auch eine wachsende volkswirtschaftliche Bedeutung für die Forstbewirtschaftung, Kohleförderung und Goldgewinnung, für den Straßen-, Eisenbahn- und Kanalbau
gewann und viele entlegene Gebiete ohne die Häftlinge nicht erschlossen, viele »Großbauten des Kommunismus« ohne ihre Knochenarbeit nicht errichtet worden wären. Dennoch kommt, wenn er dieses System einen »Eckpfeiler der Sowjetwirtschaft« nennt, die politische Dimension des Stalinschen Repressionsapparates zu kurz, waren doch mangelnde Arbeitsproduktivität und Desinteresse, die in den Lagern besonders sichtbar wurden, aber infolge des Terrors das gesamte Staatsgefüge unterwanderten, existentielle, also politische Faktoren.
Stettner, der sich durchweg einer farblosen Sprache bedient, legt sich vielfach Zurückhaltung auf. So enthält er sich eines Urteils in der Kontroverse darüber, ob sich die Lager, in denen Arbeitskraft offensichtlich vergeudet wurde, »rechneten«, also ökonomisch für den Staat rentierten. Die Schätzungen über die Zahl der Lagerinsassen (1937 bis 1941 zwischen zwei und 20 Millionen) führt er lediglich an, kommentiert mit dem Satz, daß »in der Forschung gegenwärtig ein deutlicher Trend zu niedrigeren Angaben festzustellen ist«.
Weniger zurückhaltend ist er dort, wo er - ausdrücklich jedoch den Unterschied zwischen Vergleich und Gleichsetzung betonend - »auffällige Parallelen« zwischen dem KZ-System der Nazis und dem GULag auszumachen glaubt. Aus der erklärlicherweise - relativ hohen Sterblichkeit in den Lagern (verläßliche Angaben darüber liegen nicht vor) leitet er die unbelegte Behauptung ab, daß »nach dem Nützlichkeitsprinzip ... der Faktor
Arbeitskraft bis zur völligen Erschöpfung“ ausgebeutet und der Tod der Häftlinge bewußt in Kauf genommen« wurde. Solche Verlautbarungen entsprechen nicht den ohnehin bestürzenden Tatsachen' und entwerten nur ein materialreiches Buch, das in mancherlei Hinsicht zur unverzichtbaren Aufhellung der historischen Wahrheit beiträgt.
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