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  • Politik
  • Mehdi Zana, türkischer Regimekritiker, meldet sich zu Wort

»Hölle Nr. 5«- ein Gefängnistagebuch

  • Karin Leukefeld
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Europäische Gerichtshof in Straßburg entscheidet am 25./ 26. November darüber, ob die Urteile gegen die türkischen Regimekritiker Mehdi und Leyla Zana rechtens sind. Beide setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, daß der kurdischen Bevölkerung in der Türkei politische und kulturelle Eigenständigkeit gewährt wird. Leyla Zana wurde 1994 im Parlament von Ankara unter Verletzung der Immunität als Abgeordnete - verhaftet und zu 15 Jahren verurteilt. Trotz weltweiter Proteste und obwohl ihr 1996 vom Europäischen Parlament der Sacharow-Preis verliehen worden ist, sitzt sie noch heute im Gefängnis. Ihr Mann Mehdi Zana, selbst 15 Jahre inhaftiert, lebt heute als politisch (erst vor wenigen Wochen) anerkannter Flüchtling in Stockholm, von wo er um die Freilassung seiner Frau kämpft.

Zehntausende hatten 1977 Mehdi Zana als frischgewählten kurdischen Oberbürgermeister in Diyarbakir, Kurdistans heimlicher Hauptstadt, bejubelt. Zum ersten Mal seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 hatte sich ein kurdischer Kandidat bei einer Oberbürgermeisterwahl durchgesetzt. Diese Wahl

provozierte die kemalistische Staatsführung kolossal, was Mehdi Zana während seiner Amtszeit auf vielfältige Weise zu spüren bekam. Kurz vor seinem Amtsantritt heiratete er seine damals erst 14jährige Cousine Leyla. Zwei Kinder wurden geboren: Ronay (1976) und Ruken (1981). Nur drei Jahre blieb Mehdi Zqna im Amt. Nach dem Militärputsch im September 1980 wurde er verhaftet...

Von seinen Haftjahren berichtet der heute 56jährige Mehdi Zana in seinem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Buch »Hölle Nr. 5. Tagebuch aus einem türkischen Gefängnis«. Mit großer Sorgfalt hat der Hamburger Journalist Gerd Schumann die Erinnerungen von Mehdi Zana in der Übersetzung von Jutta Schmale bearbeitet und zusammengestellt. Schumann kennt die Familie Zana seit Anfang der 90er Jahre und hat ihr Leben auch in Deutschland mit Interviews und Reportagen bekannt gemacht.

In »Hölle Nr. 5« führt Mehdi Zana den Leser von der Verhaftung seiner Frau Leyla 1994 über den Hungerstreik im Sondergefängnis Eskisehir (1988) zurück in die Jahre 1981 bis 1984, als er mit Tausenden anderer kurdischer politischer Gefangener in der »Hölle Nr. 5«, einem Sondertrakt des Militärgefängnisses in Diyarbakir, der Folter und Entwürdigung täglichen Widerstand entge-

gensetzte. Vor allem eines wird dargestellt: die Solidarität der Gefangenen untereinander. Das Buch dokumentiert ein Jahrzehnt Gefängniswiderstand in der Türkei in beklemmend nüchterner Weise. Eine Geschichte, die ihre Fortsetzung findet mit dem aktuellen Hungerstreik im Sondergefängnis Eskisehir, den mehr als 100 Gefangene seit der ersten Oktoberwoche 1997 durchführen.

»Hölle Nr. 5«, mit einem Vorwort von Elie Wiesel, ist mehr als der Bericht über den Widerstandsgeist einer bemerkenswerten Persönlichkeit. Es finden sich Anekdoten aus dem kurdischen Alltag, Biografien von Mehdi und Leyla Zana und ein informativer Anhang. Darüber hinaus ist das Buch ein Zeitdokument über den NATO-Staat Türkei, das in keinem Bücherschrank eines politisch Interessierten fehlen darf. Es beschreibt Wahrheiten in schonungsloser Offenheit, über die in Deutschland nur zu gern hinweggesehen wird.

Auf einer Rundreise zur Vorstellung seines Buches anläßlich der Frankfurter Buchmesse besuchte Mehdi Zana München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin. Zana, der sich selber keiner politischen Organisation zuordnet, überraschte mit seiner großen Offenheit bei der Beantwortung von Fragen. Ein freies Kurdistan sei die einzige Alternative, ant-

wortete Zana auf eine Frage, wie der Konflikt gelöst werden könne. Im kurdischen Freiheitskampf gäbe es unterschiedliche Formen - mit Waffen und Worten, mit der Feder und mit Aufständen. Sie alle seien berechtigt, so Zana. Das wichtigste Ziel sei, die kurdische Einheit zu erlangen.

Wer von Mehdi Zana eine Distanzierung von der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, erwartet, sieht sich enttäuscht. Auf eine in Deutschland viel diskutierte Veröffentlichung des ehemaligen PKK-Kaders Selim Cürükkaya angesprochen der Jahre gemeinsam mit Mehdi Zana in Diyarbakir inhaftiert war -, stellt er die Gegenfrage, wem diese Veröffentlichung denn genutzt habe? Auszüge des Buches würden von der türkischen Armee als Flugblätter aus Hubschraubern über den kurdischen Gebieten abgeworfen oder in den Gefängnissen verteilt. Das Ganze schade dem kurdischen Volk. Nein, er habe dem Herausgeber Günter Walraff dringend abgeraten, das Buch zu veröffentlichen.

Auch eine Distanzierung von der mit der türkischen Armee kollaborierenden KDP des Masud Barzani ist von ihm nicht zu bekommen. Aber wie kann man das erwarten von einem, dessen persönliches politisches Ziel erklärtermaßen die Vermittlung zwischen den kurdischen Organisationen ist? Seine Abschlußworte auf der Berliner Veranstaltung sind Programm für Mehdi Zana: »Seid nicht so niedergeschlagen, Freunde, wir werden einen Weg zur kurdischen Einheit finden.«

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