- Politik
- Der Leipziger Chefchoreograph Uwe Scholz und eine traditionsreiche Kunst, die brotlos zu werden droht
»Tanzen ist wie
eine Religion«
Developper, developper, passer, passei 4 ...!« Die Sprache des Balletts ist Französisch. Christoph Böhm, Erster Solotänzer des Leipziger Balletts, macht den Schülern des achten Unterrichtsjahres der Ballettschule vor, wie dieses »Developper« und »Passer« aussehen muß. Die vier Jungen im Trainingssaal schwitzen an der Stange. Der Spiegel sagt ihnen gnadenlos die Wahrheit - wenn sie hineinschauen! Bei den Figuren des klassischen Repertoires muß alles stimmen: Beine, Arme, Rücken, Schultern, Kopfhaltung, und die geht nicht immer in Richtung Spiegel. Aber mogeln ist nicht drin, dem Trainingsleiter entgeht nichts. Er korrigiert die Rückenlinie, die Schultern, die Drehung des Beines, macht vor, wie das Gewicht verlagert werden muß, um die Bewegungen der Gliedmaßen auf den ganzen Körper zu übertragen und in ihm fortschwingen zu lassen. Und nicht nur das, denn Tanzen ist mehr als Körpersprache, Tanzen ist Ausdruck der Seele mit den Mitteln des Körpers. Professor Uwe Scholz, Ballettdirektor und Chefchoreograph in Leipzig, nennt es noch anders: »Tanzen ist wie eine Religion.«
Christoph Böhm geht kritisch mit den Schülern der achten Ballettschulklasse um. Denn vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt! Die angehenden Tänzer konzentrieren sich wieder und wieder Auf was man aber auch alles gleichzeitig achten muß! So elegant wie ihr Lehrmeister möchten sie auch einmal über die Bühne fliegen.
Das schon Anfang des 18. Jahrhunderts in Frankreich fixierte ABC des klassischen Tanzes, das die Eleven an der Stange üben, ist ihnen in acht oder mehr Jahren Training in Fleisch und Blut übergegangen. Von Böhm lernen sie jetzt das Wie, das er selbst schier mühelos hinzaubert. Und vor allem mit entspanntem Lächeln. Die Gesichter der Schüler dagegen sind angestrengt. Eines Tages jedoch werden auch sie es gelernt haben, trotz aller Konzentration auf der Bühne zu lächeln.
»Manchmal ist es schon sehr hart«, gibt Christian Gerdts nach dem Training zu, und die Anstrengung in seinem Gesicht ist nicht zu übersehen. »Immer sieht man im Spiegel, was man noch nicht kann, und ärgert sich.« Und immer wieder gibt es Momente, wo der 20jährige alles hinschmeißen möchte. »Aber wenn ich dann abends in der Vorstellung sitze, ist alles verflogen.« Nun lächelt er wieder. »Ich liebe die Theaterwelt, die Schönheit der Formen des klassischen Tanzes über alles. Man muß eben üben, üben, üben«, faßt er zusammen. Wenn er dieses achte und letzte Ballettschuljahr geschafft und
die Prüfung abgelegt hat, ist er »staatlich geprüfter Tänzer« und steht in der Startposition für eine Karriere, die nur wenige Jahre andauern wird.
Zuerst heißt es, eine Stelle suchen, als Gruppentänzer Da steht man noch nicht im Mittelpunkt, die Augen der Zuschauer sind nicht permanent auf einen gerichtet, falls man mal einen »Wackler« hat... So verdient man sich seine »Sporen« und gewinnt Sicherheit. So kann man all seine Fähigkeiten voll entfalten. Und so haben sie fast alle einmal angefangen, die gro-ßen Primaballerinen und Meistertänzer
Die Bewerbung selbst sei schon Streß, erklärt Uwe Scholz. Man muß mit vielen anderen Kandidaten in einem unbekannten Ballettsaal jemandem vortanzen, dessen Trainingsstil man nicht kennt und der am Ende ohne Angabe von Gründen vielleicht einfach nur sagt. »Nein, danke«. Scholz, der seit September 1997 auch Direktor der Leipziger Ballettschule ist, hat sich daher vorgenommen, die Absolventen auf solche Situationen auch mental vorzubereiten. Er weiß aus den sechs Jahren als Chefchoreograph an der Oper Leipzig, dem Hunderte Mädchen und Jungen vorgetanzt haben, »was da oft für Tränen fließen«, wenn man nicht auf Anhieb engagiert wird. Denn tanzen kann man wie gesagt meist nur bis Mitte 30, dann ist es vorbei - das, was für die Ballerina und den Tänzer das »eigentliche Leben« ist. Also müssen sie auch auf das Danach vorbereitet werden - zum Beispiel mit Fremdsprachen- und Informatikunterricht -, »damit sie nicht in einer Traumblase vor sich hinschweben, die eines Tages platzt«, umreißt Scholz das Problem. In der DDR hatten sie dann wenigstens Anspruch auf eine Rente.
Jungen Leuten zu diesem Beruf raten würde Scholz nur, wenn sie neben der physischen Eignung echte Musikalität sowie geistige, seelische und charakterliche Stabilität mitbringen, »wenn sie tatsächlich dafür brennen«. Leider gäbe es in Deutschland zu viele Ballettschulen, denen vor allem das Geld wichtig ist, so daß sie jeden ausbilden, der es will und bezahlt. Was da geschieht, sei zum Teil fast kriminell, »wenn man zum Beispiel ein dreijähriges Mädchen schon auf die Spitze stellt, damit Mutti sich unterm Christbaum freut«, kritisiert Uwe Scholz die Machenschaften unseriöser Schulen. So würden nicht nur die Füße der Kinder kaputtgemacht, sondern ihre Träume gleich mit. In der Bundesrepublik könne jeder eine Ballettschule aufmachen »wie 'ne Pizzeria«. Eltern könnten aber kaum einschätzen, ob sie ihr Kind einer wirklich professionellen Einrichtung anvertrauen.
Nach wie vor ist es so, daß sich viel mehr Mädchen als Jungen fürs Ballett entscheiden. Scholz holt sich, “um seine Choreographien paritätisch besetzen zu können, junge Tänzer aus dem Ausland.
Im Leipziger Ballett sind 21 Nationen vertreten, ein »beispielhafter Mikrokosmos«, wie der Direktor findet. In Spanien oder Amerika sei zum Beispiel das Angebot an männlichen Tänzern größer als in Deutschland, meint Scholz. Hervorragende Tänzer kamen früher auch immer aus Rußland, der Hochburg des klassischen Balletts. Im Moment sei dort die Lage jedoch »katastrophal«. Überall tingelten kleine Gruppen unter den Etiketten »Bolschoi« und »Kirow« durchs Land, die nur Show abliefern, weil sie glauben, das wolle das westliche Publikum sehen. »Und leider haben sie nicht mal ganz unrecht«, sagt Scholz.
Daß junge Männer ihr Brot mit klassischem Tanz verdienen wollen, wird noch immer als ungewöhnlich betrachtet. Das hat sich in der Gegenwart noch verstärkt. Jungen, die sich statt für Kung-fu oder Judo für Ballett entscheiden, werden von ihren Altersgenossen belächelt, sind isoliert. Christian Gerdts hat damit glücklicherweise keine Probleme. Vor einem Jahr ist der junge Mann nach Leipzig gekommen, seine Wiege stand in Hamburg. Von der Alster, wo es die berühmte und renommierte John-Neumeier-Ballettschule der Oper gibt, an die Pleiße? Christian lacht. »Ich bin wegen Uwe Scholz hier«, erklärt er Klassisch zu tanzen und der Stil des Leipziger Ballettdirektors das sei »sein Ding«. Bisher ist er nicht enttäuscht worden. Der Weg dahin aber war wie bei allen Tänzerinnen und Tänzern alles andere als ein Zuckerschlekken. Schon sehr jung müssen angehende Tänzer, ebenso wie Musiker, sich für ihren künftigen Beruf entscheiden. Und dann heißt es eine ganze Kindheit und Jugend lang, um mit Christians Worten zu sprechen: üben, üben, üben. Christian hat, ebenso wie sein oberster
Lehrmeister Uwe Scholz, seine Liebe zum Tanz schon im Vorschulalter entdeckt. Zufällig war eine Freundin seiner Mutter Ballettpädagogin. Sie erkannte das Talent des Jungen, und die Sache nahm ihren Lauf: zuerst Privatschule, mit zwölf Jahren an die John-Neumeier-Schule. Aber dann geschah ein Unglück - Achillessehnenriß. Das hieß: ein volles Jahr aussetzen. Christian gab seinen Traum nicht auf, ging anschließend nach Essen an die Folkwang-Hochschule. Dort aber wird modernes Tanztheater gelehrt, nicht sein Stil, obwohl nach seiner Auffassung eine gute moderne Ausbildung für die Vielseitigkeit unerläßlich ist.
Der Alltag eines Tänzers oder Ballettmeisters, ob er nun Eleve ist oder Professor, besteht aus Disziplin. Manchmal müssen die Jungen schon morgens um acht Uhr im Probensaal des Opernhauses »antanzen«. Dann steht auch ihr Trainer Christoph Böhm bereits dort »auf der Matte«, beziehungsweise auf dem Parkett, um die jungen Männer zu trainieren. Um zehn Uhr, wenn das erste Leistungshoch einsetzt, beginnt der Solotänzer mit dem eigenen Training. Am Abend muß er fit sein für die Vorstellung.
Uwe Scholz betritt gegen neun Uhr sein Büro im Opernhaus. Es ist üppig geschmückt mit Blumen und Grünpflanzen, schließlich verbringt er viele, viele Stunden des Tages in diesem Büro. »Eigentlich sollte ich die meiste Zeit im Ballettsaal sein oder in der Schule«, erklärt er seufzend, aber die Oper Leipzig muß, wie alle Kultureinrichtungen der Stadt, enorm sparen. Acht Leute soll Scholz bis 1999 entlassen. Die in der Spielzeit 1996/97 noch 56 Tänzerinnen und Tänzer starke Compagnie wird dann nur noch 50 Mitglieder haben. »Sechs Tänzer weniger - das ist die Schmerzgrenze«, sagt er Denn ein klassisches Ballett kann ?man nicht mit einer Handvoll Tänzern inszenieren. Die noch zu entlassenden zwei Mitarbeiter sind seine persönliche Referentin und ein Ballettmeister, von denen er sich bereits getrennt hat. Deshalb sitzt er so viel im Büro, macht mit Sekretärin und Büroleiterin die gleiche administrative Arbeit, die sein berühmter Hamburger Kollege Neumeier mit 20(!) Mitarbeitern erledigt.
Ballett werde im Theaterbereich meist als fünftes Rad am Wagen angesehen, sagt Scholz bedauernd. Außer wenn es sich um die Hochburgen der deutschen Tanzlandschaft wie John Neumeiers Compagnie in Hamburg, das Stuttgarter Ballett von Marcia Haydee, die Ende der vorigen Saison ausgeschieden ist, oder die moderne Tanztruppe von Pina Bausch in Wuppertal handelt. Deshalb gehen die Sparappelle zuerst an die Ballettensembles. Von 56 auf 50 Tänzer zu schrumpfen klinge zwar, als ob es keinen großen Unterschied macht, sagt Scholz, aber das sei ein Irrtum. Bisher tanzten auf der
riesigen Leipziger Bühne in »Schwanensee« 30 »Schwäne«, künftig werden es nur noch 24 sein. Die Lücken wird man sehen.
Als Fachmann und Beobachter der Szene weiß Scholz, daß das Problem vor allem ein deutsches ist. Im »aristokratischen« Dresden sei man zwar weniger rigoros, aber schon die Berliner Situation hält er für eine »Katastrophe«: Die drei Ballettensembles der Staatsoper, der Deutschen Oper und der Komischen Oper, die heute zusammen 176 Mitglieder haben, sollen 1999 zum »Berlin-Ballett« mit 120 Tänzern verschmolzen werden, das alle drei Häuser klassisch und modern bedient. Eine »Schreibtischgeburt« von Kultursenator Peter Radunski, zum Scheitern verurteilt, sieht der Leipziger Ballettchef voraus. Außerdem mache die Schrumpfung oder gänzliche Schließung von Compagnien, so in Brandenburg, es zunehmend schwieriger, Absolventen von Ballettschulen an Theater zu vermitteln. Fragt sich, ob die Einsparungen -Tänzer werden schlechter bezahlt als Chorsänger - den künstlerischen Substanzverlust rechtfertigen.
Der Vorteil des »Standortes Leipzig« besteht für Scholz darin, daß sein Ensemble in Absprache mit Opernintendant Udo Zimmermann »Leipziger Ballett« heißt und nicht Opernballett, was eine gewisse Unabhängigkeit gewährleistet. Seine sechs Jahre an der Pleiße hätten sich »rentiert«, man könne in und um die Stadt ein ständig wachsendes Ballettpublikum beobachten. Die Fachpresse rechnet das Leipziger Ballett inzwischen zur Elite im deutschen Raum, und auch die internationale Aufmerksamkeit nimmt zur Freude des Direktors zu. Den Abschied aus Zürich, wo Scholz zuvor Chefchoreograph war, hat er bisher nicht bereut, »trotz aller Schwierigkeiten, weil Zürich natürlich sehr komfortabel war«, erklärt er In der Erinnerung sieht er Zürich als »zuckersüße, wunderschöne Stadt mit einer zuckersüßen, wunderschönen Oper ohne finanzielle Probleme«. Der Intendant wisse kaum, wohin mit dem Geld, da die Stadt reich sei und die Sponsoren ihm geradezu zu Füßen lägen. Und die Banker wollen ihre mit Nerz und Brillanten geschmückten Gattinnen vorführen. »Da wußte man manchmal nicht, wofür man gearbeitet hat.« In Leipzig ist das Opernhaus zwar oft nicht voll, aber die Leute, die kommen auch ins Ballett, haben ihre Karte ganz bewußt gekauft, davon ist Scholz überzeugt.
Uwe Scholz zog es schon immer zur Choreographie. Mit 16 Jahren stellte er seine erste eigene Schöpfung in Stuttgart vor Die Großen dieses Fachs haben ihn geprägt und beeinflußt: Maurice Bejarts Choreographien, als er noch Tänzer war, Marcia Haydee als Chefin des Stuttgarter Balletts nach John Crankos Tod 1973, den Scholz in seinem ersten Ballettschuljahr noch erlebte. Mit 22 Jahren wurde der heute 38jährige »ständiger Choreograph« der bundesdeutschen Ballett-Hochburg Stuttgart, in Leipzig erhielt er dann eine Professur für dieses Fach an der Musik- und Theaterhochschule »Felix Mendelssohn Bartholdy«. Choreographie zu vermitteln sei schwierig, räumt er ein. »Man hat es, oder man hat's nicht.«
Sieben Kreationen aus Uwe Scholz' choreographischer Phantasie hat die Oper Leipzig zur Zeit im Spielplan, darunter Tschaikowskis barühmte Werke »Dornröschen« und »Schwanensee«, »Bach-Kreationen« unter Mitwirkung des Thomanerchors, »Der wunderbare Mandarin« von Bela Bartok und als jüngste Inszenierung einen Rachmaninow-Prokofjew-Ballettabend. Vier- bis fünfmal im Monat steht Ballett auf dem Spielplan, dann verläßt Uwe Scholz erst gegen Mitternacht das Haus. Und seine Gedanken eilen voraus zu seiner nächsten Kreation. Die Musik liefert Mozarts Große Messe c-moll. Die Premiere soll am 14. Februar sein.
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