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  • Politik
  • Volker Keßling über ein Übel, das sich in der deutschen Geschichte fortzupflanzen scheint

Vom Fluch der Konsequenz

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer ist dieser Autor, der so einen großen Wurf wagte? Ein Mangel der Publikation - der einzige ist es, daß man über Volker Keßling nichts erfährt. Freilich mag es einige Leser geben, die sich an seinen Bestseller aus DDR-Zeiten erinnern. Das »Tagebuch eines Erziehers« erreichte im Verlag Neues Leben eine Auflage von 60 000 Exemplaren. Der Sonderschulpädagoge Keßling hatte über seine Arbeit mit behinderten Kindern geschrieben und damit ein Tabu gebrochen. Das gelang ihm, so sei vorausgeschickt, auf andere Weise auch in diesem Roman, der hier als »Romanmpntage« bezeichnet wird, wohl um das Inhomogene zu betonen. Mehrere stilistisch unterschiedliche Teile sind zusammengefügt, was dem Text den An-

schein des Unfertigen gibt. Man arbeitet beim Lesen sozusagen daran mit.

Ein Einstieg, den schon viele Autoren bemühten, oder war er der Wirklichkeit abgeschrieben: Der Ich-Erzähler erfährt vom Selbstmord seines Schwagers Horst, mit dem er über Jahre nicht zusammengekommen war. Sie waren einander »suspekt«, gehörten zu DDR-Zeiten verschiedenen »Kreisen« an. (Hier schon viel Freiraum für Überlegungen.) Der Erzähler, damals Mitarbeiter im Kirchenbauamt, heute Beamter, hatte in Horst immer den strammen SED-Genossen gesehen. Er wußte gar nicht, daß seine Schwester schon lange von ihrem Mann getrennt lebte, der im übrigen zunehmend in Konflikt mit der DDR-Staatsdoktrin geraten war. Aber wie sich herausstellt, gab es auch eine alte IM-Unterschrift. Ging Horst ins Wasser, weil er damit konfrontiert worden ist?

»Tod in Kruscherow« - nicht der einzige in diesem Buch. An eben diesem Ort war vor Jahren ein Historiker auf rätselhafte Weise verbrannt. Und dann gab es noch einen anderen Toten, der Horst seit seiner Studentenzeit verfolgte: In den letzten Kriegstagen war in Kruscherow ein polnischer Zwangsarbeiter hingerichtet worden. Als die Studenten damals öffentlich an ihn erinnern wollten, wurden sie von FDJ und Partei zurückgepfiffen. Da hatte Horst das erste Mal diesen Riß in sich verspürt, und er dachte sich ein zweites Ich aus, das aussprach, was er selber verdrängte: Michael.

Schizophrenie? Wer war nicht gespalten, wer hat nicht heute auch mitunter zwei Seelen in der Brust? Horst alias Michael hat Aufzeichnungen bei einem Pfarrer deponiert: einen sehr komplexen psychologischen Text. Die Sache wird immer spannender und komplizierter, als er sei-

ner eigenen Vergangenheit nachforscht. Im Kinderheim ist er aufgewachsen. War er ein Geschöpf des »nationalen Lebensborns«? Im Archiv des Instituts findet er ein erschreckendes Dokument - Aufzeichnungen eines SS-Mörders, der dem Namen nach sein Vater sein könnte.

War es denn in der DDR möglich, solch ein Erbe anzunehmen? Ein Höhepunkt des Buches ist jene Szene, als Horst alias Michael das versucht, über die Sprache des Mörders zu dessem Denken vordringt und ganz zerrissen aus diesem Experiment hervorgeht: »Ein Mensch wie du und ich. Nein, niemals! Doch! Und nichts Menschliches sei dir fremd.«

Geschildert wird, wie jemand versucht, sich die ganze deutsche Geschichte aufzuladen. Ein Mann - es sind tatsächlich meist Männer, die so handeln - nach au-ßen hin perfekt, macht sich kaputt auf der Suche nach dem richtigen histori-

schen Weg. Er begründet, verwirft, akzeptiert Schuld - er rechnet ab und trägt die Konsequenzen. Verfluchte Konsequenz! Hat der Mann nach all seinem Suchen noch immer nicht begriffen, daß die sauberen Lösungen meistens schrecklich sind?

Lebendigkeit - nichts geht darüber. Banale Weisheit? Zeiten gab's, da hatte auch Horst sie erfahren - mit dem Mädchen Waschna, die er um fremder Normen willen verließ. Damals hatte er im Schlamm des Sees von Kruscherow eine slawische Kultfigur geborgen. Zwei Köpfe hatte sie - »Gut und Böse in einem« ...

Weit zurück gehen die Gedanken des Autors, es werden im Buch viele Diskussionen geführt (am interessantesten die mit dem Pfarrer von Kruscherow), doch es wird vermieden, Überlegungen auf den Punkt zu bringen. Denn so würde schon wieder eine Lehre daraus. Und das wäre zu einfach, weil jeder in der konkreten Situation entscheiden muß - in Liebe zum Leben und ohne Überhebung.

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