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Versuch einer »sachlichen Gratulation«

  • Landolf Scherzer
  • Lesedauer: 4 Min.

Um einen sachlichen Glückwunsch wo geboren, was geschrieben - und keinen »gefühlsbetonten Gratulationsbrief, den nur Absender und Adressat verstehen« hat die ND-Kulturredaktion gebeten. Also gut. Oder nicht gut...? Wobei mir für den Glückwunsch an den 1928 in Zürich geborenen Genfer Bürger Jean Villain (eigentlich Marcel Brun) Sachlichkeit nicht schwerfallen sollte, denn ein Leben lang (vor einem halben Jahrhundert erschienen seine ersten Artikel im Schweizer »Volksrecht«) hat er Sachlichkeit, genaue Analyse und Authentizität nicht nur als sein wichtigstes Recherche-und Schreibhandwerkzeug genutzt, sondern diese Tugenden an viele Nachwuchsreporter weitergegeben. Und dabei legte er, der wohl bedeu-

tendste »DDR-Reportagelehrer«, nicht den DDR-Journalismus als Maßstab an, sondern den der Väter der Reportage: Herodot, Mercier, Heine, Reed, Kisch ...

Was Wunder, daß ich 1966, an diesen Maßstäben gemessen, in Villains Reportagekurs (an dem u.a. auch Klaus Schlesinger teilnahm) meine erste größere Reportage über die Leipziger Messe viermal schreiben mußte und der spätere Fernsehjournalist Axel Kaspar seine Berliner Straßenbahnreportage gar siebenmal. Und Villain erläuterte geduldig, weshalb die Details immer noch nicht stimmig und die Gefühle auch in der neuen Fassung zu allgemein waren. Goß schwarzen Tee aus der nie leeren dickbäuchigen Kanne nach...

Und damit bin ich schon zu Beginn von der geforderten Sachlichkeit in die persönliche Erinnerungs-Gefühlswelt hineingeschlittert. Aber J.V. wird es mir wohl nicht kritisch anstreichen, denn sei-

ne Sachlichkeit und Genauigkeit waren nie Selbstzweck, sondern immer nur das Rohmaterial für seine Gestaltungsmethode, die da heißt: Eine literarische Reportage muß zwar authentisch und faktentreu im Material sein, aber durch die Komposition der Fakten und die stilistische Verarbeitung zu einem Kunstwerk werden, das den Leser auf Entdeckungsreise durch die Wirklichkeit mitnimmt, ihm Spaß und Lesevergnügen bereitet, ihn mitfühlen läßt. (Etwa so wie Gertrude Stein es Hemingway riet, nämlich nicht die Gefühle zu beschreiben, sondern die Tatsachen, die die Gefühle erzeugen.)

Sachlich also nun die Aufzählung der in mehr als zwei Millionen Exemplaren erschienenen Bücher von Jean Villain: Zuerst seine Reportagebücher, in denen er über Arme und Reiche, Befreite und Unterdrückte, Mächtige und Ohnmächtige, Historie und Vision in Frankreich, Spanien, Israel, Nordafrika, Südafrika, der Schweiz, Italien, Kuba und Indien berichtet. Seine Reisen hatten 1949 mit einem längeren Aufenthalt in einem israelischen Kibuz begonnen, und wäre er danach nicht Reporter geworden, hätte er wahrscheinlich als blinder Passagier auf einem Frachtschiff »angeheuert«, um später als Kapitän wenigstens eine kleine, noch unbekannte Insel zu entdecken. Vollständig wird bei allem Mühen um

Sachlichkeit die Aufzählung der Villainschen Werke nicht - er veröffentlichte neben den Büchern Hunderte von politischen bzw literaturkritischen Artikeln und Reportagen, u.a. im Schweizer »Vorwärts«, in der »Weltbühne«, »NBI«, im »Sonntag«, »Magazin«. Aber wenigstens zwei seiner weiteren wichtigen Genres seien erwähnt, nämlich der Essay (mit »Plädoyer für Aschenbrödel« schrieb er den noch heute gültigsten Lehrbrief über die Kunst der Reportage) und der Roman. In seinem Lebens- und Schreibrefugium, einem eigenhändig ausgebauten alten Bauernhaus in Dreesch bei Prenzlau, hat Villain mit »Damals in Alienwinden« und »Junger Mann aus gutem Hause« viel beachtete autobiografische Romane geschrieben und im vergangenem Jahr noch die Bestseller-Biografie über Johanna Spyri, die Schweizer Autorin der »Heidi«, hinzugefügt.

Sachlich wäre damit das meiste aufgezählt. Fragen bleiben. Beispielsweise, weshalb einer aus gutem Schweizer Haus 1961 in die DDR kommt und dort umtriebig seßhaft wird. Zum einen, weil er für den Aufbau-Verlag ein Buch schreiben sollte und in der »Weltbühne« eine journalistische Heimat fand. Zum anderen, weil er glaubte, hier seinen Traum vom Sozialismus mit verwirklichen zu können. Wobei auch er, der genaue Ana-

lytiker, beim Zusammenzählen des Faktischen damals immer nur zu dem Ergebnis »wir müssen den Sozialismus in der DDR anders, besser, demokratischer machen« gelangte. Weshalb das so war, versucht er in seinem schon 1990 veröffentlichten Buch »Die Revolution verstößt ihre Väter - Aussagen und Gespräche zum Untergang der DDR«, sich und seinen Lesern zu erklären.

Und damit wäre ich nun endgültig bei den Gefühlen, nämlich meinem Wunsch zum heutigen 70.: Lieber Jean Villain, zwar hat die »Revolution« ihre Väter entlassen, doch die Reportage entläßt ihre Väter nicht. Sie entläßt sie nicht aus der Anerkennung ihrer, die Zeiten überdauernden Reportagebücher und entläßt ihre Väter nicht aus der Pflicht, sich auch weiterhin mit Reportagen einzumischen, die Welt durchschaubarer zu machen. Auch Dich nicht! Dafür Kraft und Mut und Gesundheit. Und verzeih mir, daß ich nun wieder persönlich gefühlvoll geworden bin, aber ich habe es bei Dir so gelernt: »Sachlichkeit, die keine Gefühle weckt, ist literarisch nicht gestaltet.« Außerdem muß ich Dir - der Kulturredaktion sei Dank - diesen Artikel nicht zur analytischen Umarbeitung vorlegen, dann nämlich könnte es passieren, daß ich noch zu Deinem 71. an der 17 Fassung herumbosseln würde

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