Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa

Das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands und Spinellis Manifest

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist Montag, der 7. August 1950. Hunderte von Studenten aus Italien, England, Frankreich, der Schweiz, den Benelux-Staaten und Deutschland demonstrieren im elsässischen Weissenburg für ein gemeinsames Europa. Am Tag zuvor haben einige von ihnen Grenzpfähle an der deutsch-französischen Grenze in der Südpfalz zerstört. Es war ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen für ein föderalistisches Europa, ganz im Geiste des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

1950 war die Begeisterung und der Idealismus der so genannten Föderalisten allerdings mehrheitlich bereits der Ernüchterung gewichen. Der Kalte Krieg forderte seinen Tribut, die Hoffnung der Föderalisten auf ein Europa jenseits der Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion war zerstoben. Die Restauration des Kapitalismus in den Nationalstaaten des Westens war in vollem Gange, und auch Stalin sah wenig Gemeinsamkeiten mit den Föderalisten.

Ein Architekt der Bewegung für ein föderalistisches Europa war der Italiener Altiero Spinelli. Als Kommunist kämpfte er in den 20er Jahren gegen den Faschismus und geriet bald in Gefangenschaft. 1937, nach mehr als zehn Jahren Haft, wird er auf die Gefängnisinsel Ventotene verlegt. Dort bricht er mit dem Stalinismus und entwirft im Juli 1941 gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Ernesto Rossi und dem Physiker und Sozialisten Eugenio Colorni das Manifest von Ventotene. Von Rossis Frau aufs Festland geschmuggelt, gelangt es nach Rom und ins europäische Ausland, wo es über die Kreise sozialistischer Widerstandsgruppen hinaus großen Anklang findet.

»Die erste anzugehende Aufgabe, ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt eine trügerische Hoffnung bleiben würde, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen. Die Tatsache, dass ein großer Teil der europäischen Staaten von der deutschen Walze erfasst worden ist, hat ihre Geschicke zu einem verschmolzen«, schlussfolgern die Autoren. »Entweder geraten die Staaten alle unter das Hitlerregime, oder aber, falls dieses zerfällt, in eine revolutionäre Krise, die ein Erstarren und eine Aufteilung in feste staatliche Strukturen nicht zulässt.«

Völlig neu war die Idee eines geeinten Europas nicht. Die Kriege des vergangenen Jahrhunderts hatten immer wieder den Wunsch danach geweckt, z.B. bei Immanuel Kant und Victor Hugo. Aber sie blieben vereinzelte Rufer in der Wüste. Auch das Kommunistische Manifest beginnt mit dem Satz: »Ein Gespenst geht um in Europa.« Für Marx und Engels drückte Europa eine weltweite Sonderstellung hinsichtlich Produktionsverhältnisse und ihrer Entwicklung aus. Marx bezeichnete den »Westen von Europa« als das »Heimatland der politischen Ökonomie« und warnte davor, seine Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges zu verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg fand die Idee eines geeinten Europas mehr und mehr Anhänger. Bürgerliche Politiker sahen es als Bollwerk gegen die Sowjetunion, die Arbeiterbewegung und ihre politischen Organisationen setzten auf die sozialistische Revolution in Westeuropa, auf die »Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa«. Es kam zu keiner Einigung, und auch die Revolution blieb aus.

Stattdessen war es der Zweite Weltkrieg, der einen neuen Schub für die Europäische Idee brachte, der sich auch in der raschen Verbreitung des Manifests von Ventotene ausdrückte. Seine Anhänger setzten nicht nur auf ein föderalistisches Europa, sondern auch auf dessen sozialistische Prägung: Die europäische Revolution müsse »sozialistisch sein, d.h. sie muss sich die Emanzipation der werktätigen Klassen und die Verwirklichung menschlicher Lebensbedingungen... zum Ziele setzen«. Dieses Bekenntnis zu einem sozialistischen Europa zog sich durch viele Erklärungen des Widerstandes und fand sich auch im Buchenwalder Manifest vom 13. April 1945.

Aber weder der US-amerikanische Präsident Roosevelt oder Winston Churchill, noch Josef Stalin hatten Interesse an den Europavorstellungen der Widerstandskämpfer, von denen die meisten Europa nur als eine Vorstufe zu einer Weltföderation betrachteten. »Der Kampf hat aufgehört, aber nicht die Gefahren«, sagte Winston Churchill in seiner Züricher Rede im September 1946. Mit dieser Rede wies er Europa bereits einen Frontplatz im Kalten Krieg zu. Er wollte, so hatte er bereits zwei Jahre zuvor verkündet, »an der Wiederbelebung des furchtbringenden Geistes und der Wiederherstellung der wahrhaften Größe Europas« mitarbeiten.

Sehr zum Missfallen der damaligen Föderalisten, unter ihnen Henri Frensy, Chef der französischen Widerstandsbewegung »Combat«, der deutsche Buchenwald-Überlebende Eugen Kogon und Spinelli, der später als Mitglied der KP Italiens Abgeordneter des Europäischen Parlaments wurde. Er kritisierte Churchills Europapolitik als tödliche Umarmung: »Churchill hatte eine gleichermaßen schlaue wie auch zynische Idee: die Briten würden die Rolle der Schutzherren der europäischen Bewegung übernehmen, um diese dann so zu führen, dass eine wirkliche Union mit Sicherheit niemals erreicht werden würde.« Es sei keine Rede gewesen von »Föderation, Abgabe von Souveränitätsrechten, supranationalen Institutionen, aber stattdessen gab es eine Fülle von Plattitüden und allgemeinen Floskeln über das Erbe einer gemeinsamen Zivilisation, Solidarität gegen den Kommunismus«.

Ein Westeuropa, das vor allem als Bollwerk gegen den Kommunismus dienen sollte, war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Sache der Föderalisten um Spinelli. Ihre Träume von einem föderalistischen, demokratischen und sozialistischen Europa wurden spätestens mit der Unterzeichnung des Marshallplanes im Dezember 1949 durch US-Hochkommissar John McCloy und Bundeskanzler Konrad Adenauer zunichte gemacht. Adenauer sprach schon damals von der Notwendigkeit eines freien Marktes und einer Einheitswährung und berief sich dabei auf die »traditionellen Werte der europäischen Kultur«, die nur »erhalten werden können, wenn Europa wirtschaftlich und kulturell gesundet und in friedlicher Zusammenarbeit vereint den destruktiven Kräften, welche von außen her auf Westeuropa einwirken, als festes Bollwerk entgegentreten kann«. Damit war der Weg zum heutigen Europa, seiner militaristischen und neoliberalen Verfassung, bereits eingeschlagen.

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