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Trauer und Liebe

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Seine Hörspiele, Filmszenarien, Filme und Prosatexte gehören zum Besten, was die DDR-Kunst geschaffen hat. »Portrait einer dicken Frau« (1971), »Der Dritte« (1972), »Die Verlobte« (1981), »Herr von Oe« (1984), »Anton Popper« (1985) oder die Geschichte vom »Gesellen«: »Ein Fleischergeselle in Pommern kaufte im Sommer neunzehnhundertzweiunddreißig von seinem Ersparten ein Fahrrad und erbat sich von seinen Eltern die Erlaubnis, in Berlin die Olympischen Spiele zu besuchen ...« Sie erinnern sich an dieses grausliche Schicksal? Der Junge kam nie zurück und verbrachte statt dessen - aufgrund von bösen Verwicklungen - sein Leben im Gefängnis. Aber es ist eben nicht nur dieser besondere Fall' Wie das erzählt ist! Kein Wort zuviel, und den-

noch fließen und klingen die Sätze. Wie bei Kleist, Fontane oder Keller. Keine schlechte Tradition und erste Adresse, aber vielleicht heute ein bißchen altmodisch? Wenn postmoderne Beliebigkeit als aktuelle Gipfelleistung gilt, dann ja, denn Günther Rücker war und ist nie austauschbar, lau oder gefällig. Dieser freundliche Plauderer, herrliche Vorleser eigener und fremder Literatur, dieser vorzügliche Erzähler von Filmen, die er einmal gesehen hat und die er liebt, ist kompromißlos in seinem Schaffen.

1983 schrieb er einen Essay, in dem er das Buch Hiob lobt. Darin verbindet sich Liebe, die ein Bekenntnis zum sinnenfreudigen Leben, zur Natur und überhaupt allen Schönheiten ist, mit Schmerz. Was Rücker aus dem Herzen spricht, denn auch er kann nicht uneingeschränkt jubeln. Trauer empfindet er, seine Jugend in einer Zeit verbracht zu haben mit Mör-

dern Tür an Tür, mit Erschießungskommandos in unserer Sprache, mit Konzentrationslagern in unserem und fremdem Land. Dann die darauffolgende Zeit, die so »hochfahrend« war, »das Buch Hiob, und nicht dieses allein, zu verspielen, indem uns gelehrt wurde, daß wir ohne sie besser auskämen und schneller vorankämen, denn mit uns begänne alles eigentlich so recht und richtig«. Das dritte Verhängnis: Das Wissen um die Möglichkeit der Vernichtung alles Irdischen per Knopfdruck - durch Geräte, die immer perfekter den Vernichtungswünschen ihrer Konstrukteure und Befehlshaber folgen.

Das war nicht einfach so dahingesagt, das ist sein Credo als Künstler Die Wendung vom »verordneten Antifaschismus« muß jedem einigermaßen sensiblen Zeitgenossen bei der Lektüre von Rückers Prosa und angesichts seiner Filme vom »Sender Gleiwitz« (1961) bis »Hilde, das

Dienstmädchen« (1988) im Halse stecken bleiben. »Nie ist meine Liebe frei gewesen von dieser Trauer. Und ich habe beide, Trauer und Liebe, nie voneinander getrennt. Wir gehören zeit unseres Lebens zu dem Volke, dem es aufgegeben ist, dies nie zu vergessen, wir haben es unseren Kindern weiterzugeben und deren Kindeskindern.« Jeder Kommentar dazu erübrigt sich.

»Hochfahrenheit« kann man auch mit Dogmatismus, Borniertheit und Selbst-

herrlichkeit übersetzen. Dies haßte er an der DDR, zu deren antifaschistischen und antikapitalistischen Grundsätzen er sich bekannte. Er wollte die DDR anders: nicht so eng und kleinlich - freundlicher, geselliger, so wie er es - vielen ein Freund - selber lebt: mit Sinn für kleine und gro-ße Genüsse, engagiert gegen Ungerechtigkeiten, genau und unerbittlich in der Arbeit. Seine Sätze sind zigmal gefeilt, geprüft, probiert, und seine Film-Bilder

so eindrucksvoll, daß man sie nach Jahren noch vor sich sieht. Er behauptet, nichts an seinen Arbeiten sei erfunden, und das mag für die beschriebenen und filmisch gestalteten Schicksale stimmen. Er aber hat das künstlerische Maß dafür gefunden - die drei Seiten für den »Fleischergesellen«, diese Stadtlandschaft für die in den Fenstern brennenden Kerzen, die für »Heim ins Reich« (»Hilde, das Dienstmädchen«) stehen, den besonderen Ton, mal melancholisch oder leicht ironisch, auch zuweilen ganz sachlich.

Seit »Otto Blomow - Geschichten eines Untermieters« (1991) ist kein neues Buch in einem renommierten Verlag erschienen, kein neuer Film angekündigt, obwohl Günther Rücker - wie man hört schreibt. Es gab auch keine Nachauflagen. Statt dessen wurde versucht, ihn moralisch zu erledigen. Das ist für mich einer der Skandale der Einheit, die hoffentlich wenigstens später einmal aufgeklärt und vielleicht sogar berichtigt werden, indem die Arbeiten wieder verlegt und gezeigt werden. Ich »tröste« mich ein bißchen mit den alten Büchern im Regal - lese, genieße - und wünsche dem Jubilar ein schönes Geburtstagsfest und uns allen bald ein neues Buch!

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