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  • Politik
  • Lutz Rathenow: Kürzer und dichter werden seine Texte

Hellwach. Übermüdet. Das Gewissen

  • Chaim Noll
  • Lesedauer: 4 Min.

Irgendwann gewinnen unsere Lebensläufe Eigengewicht, eines Tages sind sie lang und ereignisreich genug, um ihrerseits zu sprechen, unabhängig von unseren Worten. Lutz Rathenow kann mit dem seinen leben: Kindheit in mitteldeutscher Provinz, Jugend im Widerstand gegen den Staat DDR. Tägliche Arbeit am Wort machte den Dissidenten zum Dichter, das Leben in der Öffentlichkeit zum nachdenklichen Menschen.

Den ersten Teil seines Lebens verbrachte er in einer erzwungenen Enge, in der Worte explosive Wirkung erzielen konnten. Seit der deutschen Wiedervereinigung viel und weit gereist, hat er inzwischen auch die Beliebigkeit der Worte kennen gelernt, ihr Verlorengehen im Lärm, ihre Ohnmacht. In Rathenows poetischer Chiffre verkürzt sich die alt-neue

Weltsicht auf zwei Zeilen: »Tote Tiere auf den Blättern/ Schwärzlich gliederreiche Lettern«.

Inzwischen ist Lutz Rathenow, was den Umgang mit Worten betrifft, erfahren und versiert - dennoch arbeitet er mit der Lust eines Neu-Entdeckers. Aus inspirativen Eingebungen, oft Augenblickseinfällen, entstehen assoziationsreiche kurze Texte. Man spürt, wie Rathenow hinterher über die eigenen Einfälle nachsinnt, längere Zeit, oft mit einem gewissen Erstaunen, und in diesem Stadium arbeitet er noch manche Stunde an seinem intuitiven ersten Entwurf. Dabei geht er - in Tagen wohlfeiler Wortflut - mit dem Wort eher anachronistisch um, gewissenhaft wie ein Goldschmied, der den Wert des Rohmaterials immer im Auge behält. Was so entsteht, sind feingearbeitete Miniaturen, die dennoch die Frische des En passant, der plötzlichen Eingebung bewahren. Manchmal Aphorismen in Gedichtform, manchmal verdichtete Historie: »Jeder-

zeit fluchtbereit. Jahrhundert der Blicke, Freiheit/ Gleichheit Dummheit, getarnt/ unter Steinen: mein Weg. Hinunter-/ schreiten auf bröckligen Treppen,/ am Abreisetag blieb noch Zeit/ für einen letzten Blick« - Diese wenigen Zeilen enthalten sein eigenes Leben, zugleich einen Geschmack des ausklingenden Jahrhunderts, in sprachlich dichtester Form, Dichtung im Wortsinn. Dabei wurden die Bilder ausgelöst durch etwas Alltägliches, den »Weg zur Bucht« in einem südlichen Feriendorf, das er gleich verlassen muss. Das Unerfüllte der Situation, das Bedauern über versäumtes Leben - ein Grundthema für »Letzte Gedichte aus einem Jahrhundert«, wie Lutz Rathenow seinen neuesten Band im Untertitel nennt. Trotz grandioser Möglichkeiten bleibt das »moderne Leben« dem Paradies so fern wie jeder frühere Versuch. Rathenow hat ein geübtes Auge für die unfreiwillige Komik, die unfreiwillige Selbstenthüllung der letzten Tage dieses zu Ende gehenden Jahrtausends. Er scheut auch das Kurzlebige nicht, die Nachricht, die Zeitungsnotiz, wenn sie nur symbolisch genug sind, um ihn anzuregen, etwa zu dem Gedicht »Montag der 18. September«: Boeing 767 knickt vor dem Start in Hamburg ein,/ niemand verletzt, sechs Tote bei Flugparade/zum Nationalfeiertag in Mexiko, ein Guru (Indien),/ Berater des Präsidenten, arbeitet mit Bossen des/ organisierten

Verbrechens zusammen,/ zwischen Puttgarden und Lübeck 47 Verletzte, ein Bus/ kippt um, Herzrhythmusstörungen bei Liz Taylor,/ der Fußballer Maradonna will in Kuba leben (...)/ das Gedicht eines Massenmörders/ (11 Kinder) gewinnt Wettbewerb für Poesie/ (Nationalbibliothek, Maryland)«

Der Umstand, dass Lutz Rathenow in der DDR geboren wurde und aufwuchs, scheint mir nicht so wichtig wie gemeinhin angenommen, jedenfalls nicht in Hinblick auf seine Gedichte. Geborensein in der DDR ist weder Stigma noch Verdienst. Lutz Rathenow war nie im eigentlichen Sinne DDR-Schriftsteller, sondern immer - wenngleich in Ost-Berlin lebend - eine singuläre, keinem Literaturbetrieb zugehörige Erscheinung. Gerade darin bestand seine große Herausforderung. Darin könnte sie auch in Zukunft bestehen. Er wird vermutlich auch dem vereinigten Deutschland ein unbequemer Dichter bleiben, weil er sich anderen Wahrheiten verpflichtet fühlt als denen des Tages, des Marktes, der Medien - Wahrheiten, entstanden aus dem unsterblichen Vorgang des Schreibens selbst.

Gedichte schreiben ist für Lutz Rathenow, wie für jeden echten Dichter, ein natürliches Bedürfnis. »Eigentlich wollte (er) keine Gedichte mehr schreiben«, heißt es im Nachspann seines vorletzten Bandes. Wer die neuen Gedichte liest, weiß, dass

sie geschrieben werden mussten, ob der Autor wollte oder nicht: »Den Schlaf zerfaxen,/ weil ich mit der Zeit/ die Zeit vergesse. Hellwach./Übermüdet. Das Gewissen (schlecht)/ erzeugt ein Gedicht. Hilft das/ in den Traum?«

Es hilft zumindest mir, dem Leser, viele tausend Meilen entfernt, der ich vielleicht ähnliche Probleme habe in diesen letzten Tagen des Jahrhunderts, Probleme mit Schlaf und Gewissen, mit dem dennoch verlockenden Traum vom menschlichen Leben. Rathenow findet neue Wege, zu den »ewigen Themen« vorzudringen, zu den zeitlosen Fragen menschlicher Existenz. Mit den Jahren sind wir gewissenhafter geworden in der Auswahl dessen, was sich mitzuteilen lohnt. Auch seine Texte werden kürzer und dichter, wodurch sie noch gewinnen. Ich bin gespannt auf die nächsten Gedichte. Von seiner poetischen Botschaft geht eine Faszination aus wie vom Text einer Flaschenpost: Da ist ein Land namens Deutschland, fern, von Menschen bewohnt, vielleicht ist dort ein Freund.

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