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  • Politik
  • Gertrud Kolmar und ihr beeindruckender Roman

Die Fremde, die Einsame

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Karin Haferland

Nichts als Sand in den Schuhen Kommender« würde sie sein, ahnte Gertrud Kolmar. Zu Lebzeiten war sie kaum bekannt. Da sie nicht abhängig war von der äußeren Welt, einem Publikum oder Anerkennung, konnte sie ihre Kunst in sich wachsen lassen - wie eine Pflanze, die tief wurzelt. Eine Heilpflanze, die ihre Kraft aus einem vergifteten Boden bezieht, indem sie das Gift auf geheimnisvolle Weise in das Gegengift verwandelt. So entstand ihre Poesie als etwas Eigenes, für das im Äußeren weder Raum noch Zeit waren. Denn sie war »Die Fremde«, »Die Einsame«, »Die Jüdin«, um nur drei Gedichttitel zu nennen.

Gertrud Kolmar wurde am 10. Dezember 1894 in Berlin geboren. Der Vater, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, strebte als Jude eine Assimilation im wilhelminischen Deutschland an, die er Jahrzehnte lang gelungen glaubte. Die Mutter entstammte einer märkisch-jüdischen Kaufmannsfamilie, war von heiterem Gemüt und den schönen Künsten zugewandt. Gertrud aber zeigte sich herb, unnahbar und blickte verächtlich auf den elterlichen Wohlstand. Früh schon emp-

findet sie sich als »die Andere, nie die Eine«. Ein Lebensgefühl, das sich durch das Trauma einer unerlaubten Liebe und ein Kind, das sie nicht gebären durfte, noch vertiefte. Da sie nicht aussprechen konnte, was sie erfahren hatte, nährte sie in sich Schuldgefühle. Gedichttitel wie »Die Sünderin«, »Die Verworfene«, »Ein Mädchen in den Gassen« zeugen von Selbsterniedrigung und Selbstverleugnung. Immer wieder beschwört sie in ihren Gedichten das Dunkel der Nacht, das sie »als wärmendes Gewand« um sich zieht, spricht sie mit den Tieren, der Natur, mit dem Ewigen, wie sie sagt.

Vom August 1930 bis Ende Januar 1931 schreibt sie ihren Roman »Die jüdische Mutter«, der erstmals 1965 unter dem Titel »Eine Mutter«, 16 Jahre später als »Eine jüdische Mutter« und nun wieder unter dem Originaltitel herausgegeben wurde.

Auch aus diesem Prosatext spricht die Lyrikerin. Im Gegensatz zu ihren Gedichten aber ist der Roman aus zeitgenössischer Perspektive geschrieben und spielt in Berlin am Ende der Weimarer Republik. Friedrich Wolg, der Sohn eines Großhändlers, verliebt sich in die schweigsame Martha Jadassohn. Der Vater warnt den Sohn: »Sie ist stärker als du, das spür' ich, bloß wenn ich sie sehe.« Die beiden heiraten dennoch. Nun ist es der Mann, der

empfindet: »Es war ein Seltsames da, ein Fremdes, etwas ... er suchte einen Namen dafür. Dies vielleicht, daß sie aus anderem Blut, daß sie Jüdin war.« Mit der Geburt der Tochter Ursula ist die Entfremdung endgültig. Friedrich reist für ein Jahr nach Amerika, kommt als Schwerkranker zurück und stirbt. Die Witwe zieht sich mit ihrer fünfjährigen Tochter in eine einfache, fast ärmliche Gegend zurück. »Dies war ein Klösterliches, der Friede, die Abgewandtheit...« Durch den Einbruch sexueller Gewalt wird diese Idylle jäh zerstört. Martha, die Tiermutter, findet ihr Junges in einer Laubenkolonie. »Sie stürzte über ihm nieder. Sie fiel in den Winkel hin, wo es lag, in Unrat geschmissen (...) es atmete doch. Sie zog auf einmal die Hand zurück ... Die war voll Blut... Sie schlug das Röckchen empor. Erbarmen...« Als sich im Krankenhaus herausstellt, dass die seelischen Schäden des Kindes viel größer sind als die körperlichen, tötet Martha Wolg ihr Liebstes noch in der Klinik mit einer Überdosis Schlafmittel. Sie selbst macht sich auf die Suche nach dem »wahren« Mörder ihres Kindes. Dabei gerät sie in einen Strudel von Macht und Ohnmacht, der sie an die Grenze des Wahnsinns führt.

Gertrud Kolmar setzt Motive der jüdischen Tradition und des jüdischen Glau-

bens ein, um die Tat der Mutter zu motivieren, benennt auch antisemitische Klischees. Ihr Roman muss auch als Frühdiagnose einer Zeit verstanden werden, die sich rüstete aus dem Unsichtbaren, aber doch schon Spürbaren, ins Sichtbare zu marschieren und im Gleichschritt alles niederzutrampeln, was im Wege stand.

Zwei Jahre später schon schreibt Gertrud Kolmar ihren Gedichtzyklus »Wort der Stummen«, in dem sie die politischen Ereignisse nach Hitlers Machtergreifung thematisiert. 1937 verabschiedet sie sich von der Außenwelt als Dichterin mit ihrem lyrischen Testament, dem Gedichtzyklus »Welten«. Sie zieht sich ganz in sich zurück, 1940 noch lernt sie Hebräisch, setzt sie sich mit dem jüdischen Glauben auseinander. Ihre Briefe an die Schwester Hilde, die in die Schweiz emigriert war, schildern die letzten Jahre von Gertrud Kolmar, die sie mit ihrem Vater allein in Berlin verbrachte. Sie zeugen von ihrer aufrechten Haltung. Die äußere Bedrohung ließ ihre seelische Kraft erstarken. Die Mutter war bereits 1930 gestorben, die Geschwister im Ausland. Die Dichterin wurde 1939 zur Zwangsarbeit verpflichtet, der Vater 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er bald darauf starb. Ein Jahr später wurde die Dichterin Gertrud Kolmar zusammen mit anderen jüdischen Rüstungsarbeitern vom Arbeitsplatz nach Auschwitz verschleppt, wo sie nie ankam. Niemand weiß, wo ihr Grab ist.

Goethe und Christiane, Simone Signoret und Yves Montand, Bonny und Clyde: »Berühmte Liebespaare« - packende Lektüre über große Gefühle (hg. v. Thomas Schröder, Insel Verlag, 295 S., brosch., 19,80 DM).

Momentaufnahmen des menschlichen Daseins: »Die Umarmung eines Soldaten« - zwölf Erzählungen der südafrikanischen Literatur-Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer (S. Fischer, 223 S., geb., 34 DM).

Quer durch die Weltliteratur- »Engel in der Nacht. Die schönsten Weihnachtsgeschichten« von Fontane, Fallada, Gorki, Brecht, Truman Capote, Helga Königsdorf und vielen anderen (Hg. v. Reinhard Rohn, Aufbau Taschenbuch Verlag, 304 S., brosch., 15,90 DM).

T ronisch, kritisch, wortgewandt: »Wari-um mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht oder Das Zeitalter der Eidechse« - Joseph von Westphalen zeigt sich genervt vom Millennium-Tamtam (Eichborn, 160 S., geb., 24,80 DM).

Wie Maria de Vergindischung vernomm had: »Die Weihnachtsgeschichte auf sächsisch«, von Dieter Kleeberg übersetzt nach dem Lukas-Evangelium (Verlag Michaela Naumann, geb., 9,80 DM).

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