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Unglück als beglückende Erfahrung

RICHARD FORD zieht mit »Kanada« Leser in seinen Bann

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie das Leben so spielt! Der 15-jährige Dell und Zwillingsschwester Berner haben liebevolle Eltern und werden von ihnen doch aus dem Gleichgewicht gebracht. Vater Bev, »ein großer, gewinnender, lächelnder, gutaussehender Einsdreiundachtziger«, hat im Zweiten Weltkrieg bei der US-Luftwaffe gedient, doch in seinen wechselnden zivilen Jobs nicht mehr die Treffsicherheit, die er als Bombenschütze über Japan besaß. Mutter Neeva ist eine kleine bebrillte Frau mit skeptischem Blick auf die Welt, die ihren Traum als Dozentin an einem kleinen College nicht erfüllen konnte und klarer als ihr Mann sieht, dass sie die Falschen füreinander waren.

Wir schreiben Sommer 1960. Der Präsidentschaftswahlkampf Nixon-Kennedy treibt seiner knappen Entscheidung entgegen, als Vater Bev wegen eigentlich beherrschbarer Geldsorgen eine Provinzbank überfällt. Neeva war dagegen, begleitet aber ihren Mann im Fluchtauto. Vielleicht, weil sie weiß, dass sie ihn nach dem Raub endgültig verlassen wird. Die Beute von 2500 Dollar ist so lächerlich, wie der Überfall armselig. Die zwei kommen ins Gefängnis, Berner büxt aus, und Zwilling Dell, ein nachdenklicher Junge mit Lust am Lernen, an Schachspiel und Bienenzucht, wird von einer Freundin der Mutter in ein gottverlassenes Nest in Kanadas Provinz Saskatchewan gebracht. Dort betreibt der Bruder der Freundin seit Jahren ein Jagdhotel - und versteckt sich so vor den Folgen eines Sprengstoffanschlags in den USA, bei dem er vor langer Zeit unbeabsichtigt einen Mann umbrachte.

Dells Mutter hatte mit der Unterbringung ihrer Kinder in Kanada die Einweisung ins Heim verhindern wollen. Nun landet Dell allein in der Prärie, von Vertrautheit, Bindung und Zuneigung verlassen. Schuldlos, gleichwohl wie ein Verbrecher abgetaucht und fern von jeder Schule, wird er mit Hilfsarbeiten aller Art beladen und daran erinnert, »dass unsere Familie am Ende war«.

Wie in Richard Fords großen Romanen »Der Sportreporter«, (1989), »Unabhängigkeitstag« (1995, Pulitzer-Preis sowie PEN-Faulkner Award) oder »Die Lage des Landes« (2007) geht es auch hier um grundlegende Fragen: Wer liebt mich, warum bin ich allein, wer fühlt was und weshalb, woran kann ich mich halten, wer gibt mir Orientierung, wie sieht meine Zukunft aus?

Mit seinem Ich-Erzähler Dell hat Ford eine großartige Figur geschaffen: Ein stiller, wacher Mensch voller Fragen. Ein 15-jähriger Junge, der dazu gehören möchte, aber in seinem eigenartigen Exil spürt, wie er in den Augen der Welt »kleiner geworden (war), unbedeutend, vielleicht unsichtbar.«

Dells Heimsuchung, die Ford als Schicksal inszeniert, das der Betroffene still und eher verwundert als verletzt erträgt, wird bald schon zur beglückenden Erfahrung für den Leser. Aus dem Wechsel des Unwahrscheinlichen ins Unerbittliche entsteht ein Sog - das ist die Stärke von Fords Roman. Er hat seine Schwächen und, in der zweiten Hälfte, Längen, doch er verliert darüber nicht die Größe.

Der kriminell-kriminalistische Hintergrund, der immer wieder aufscheint, ist letztlich nachrangig zu umfassenden Fragen: Was ist ein normales Leben? Warum sehen Ereignisse, die das ganze Dasein verändern, manchmal nicht danach aus?

Wenn es einem Schriftsteller gelingt, seine Leser mit kleinen, anfangs unmerklichen Fesseln an sich zu binden, hat er Erfolg gehabt. Richard Ford, der heute 68-jährige Amerikaner aus Jackson, Mississippi, darf sich mit seinem Roman »Kanada« einen solchen Gewinn gutschreiben.

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