Emmeline und der Kapitän

AINO PERVIK erzählt die Liebesgeschichte einer Hexe

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 2 Min.

Die Kunksmuhme mit ihren zerzausten Haaren und der langen, knochigen Gestalt lebt auf einem Eiland und hat bei ihrer ganzen Hexerei ziemlich seltsame Eigenschaften angenommen. Kranksein bereitet ihr beispielsweise ein Riesenvergnügen. Bauchweh, Husten und Fieber versetzten sie in helle Begeisterung, und sie nimmt sich jedes Mal vor, längere Zeit krank zu sein und dies so richtig auszukosten. Aber meistens kann sie einen quälenden Husten dann doch auf Dauer nicht ertragen und wird natürlich schlagartig gesund, wenn sie Wildminzekraut und Bibernellwurz in ihren Tee mischt. Schließlich ist sie eine Hexe und weiß, wie so etwas geht.

Als die Kunksmuhme, die in Wirklichkeit Emmeline heißt, einmal in die Stadt kommt, gerät ihr Hexendasein gehörig aus den Fugen. Ganz vernarrt ist sie plötzlich ins Eis essen, Auto fahren und Einkaufen. Sie panzert sich geradezu mit Schmuck und kauft ganze Berge von Kleidern und neuen Taschen für sich. Nebenbei richtet sie einen Fuß des alten Kapitäns Krumm, der nach einem Unfall mit den Zehen rückwärts zeigte, und den die Ärzte auch in 21 Operationen nicht wieder in die richtige Richtung hatten wenden können. Sie schafft es ebenfalls, ein Flugzeugunglück zu verhindern und posiert anschließend ausgesprochen selbstgefällig vor den Fernsehkameras der begeisterten Journalisten. Das war dann aber doch zu viel. Weinend flieht sie auf ihr einsames Eiland. Auch Krumm, in den sie sich längst verguckt hat, kann sie nicht trösten.

Die estnische Schriftstellerin Aino Pervik malt mit überschwänglicher Phantasie und in schöner, witziger Sprache das Bild einer alten, verschnurrten Hexe in einer bizarren Lebenswelt. Sie schreckt nicht davor zurück, einen Selbstmordversuch der Kunksmuhme im Schornstein zu schildern, der dem Märchen allerdings nur für wenige Augenblicke einen Anstrich von Schwermut und Trauer gibt. Es wird nämlich schnell wieder turbulent und lebenslustig, als Emmeline merkt, dass diese Idee nicht besonders toll war und sie stattdessen lieber zu ihrem Krumm eilen sollte. Ihr Hexengefühl täuscht sie da nicht, denn »Krümmchen«, wie sie den Kapitän liebevoll nennt, hat in der Zwischenzeit selbst versucht, ein wenig herumzuzaubern. Und das ist weder ihm gut bekommen, noch jenen, die seine Hilfe beanspruchten.

Emmeline kommt gerade zur rechten Zeit wieder auf die Insel, um Ordnung in den Hexenladen zu bringen und die Harmonie zwischen ihr und dem Kapitän wiederherzustellen. Künftig wollen die beiden gemeinsam ganz in Ruhe Bienen züchten.

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