Der Kobold-Staubsauger

AUTHENTISCHE FÄLLE DER RECHTSMEDIZIN

  • Frank-Rainer Schurich
  • Lesedauer: 3 Min.

Der große amerikanische Zyniker Ambrose Bierce berichtete 1870 in der Zeitung »News Letter«, dass in San Francisco ein Opfer mit eingeschlagenem Schädel und einer Brechstange im Bauch untersucht wurde. Er wurde aber kurz vorher bei guter Verfassung gesehen, so dass im Leichenschauhaus sein Tod auf »Herzversagen« zurückgeführt wurde. Solche Verhältnisse haben wir in Deutschland noch nicht.

Dennoch muss Claudia Puhlfürst konstatieren, dass auch hierzulande die Leichenschau vielfach unprofessionell und manchmal schlampig durchgeführt wird. Sie bemerkt, dass in Deutschland so wenig wie kaum in einem anderen Land Europas obduziert wird und dadurch zwischen 1200 bis 2400 Tötungsdelikte in jedem Jahr unentdeckt bleiben. Der »Oma-Mörder« aus Bremerhaven, der im ersten Kapitel geschildert wird, ist ein trauriger Beweis hierfür.

Ein Altenpfleger ermordet aus Raffgier fünf ältere Frauen, die Vertrauen zu ihm haben, durch Gewaltanwendung und Ersticken mit dem Kissen. Die Ärzte bescheinigen bei vier Opfern jeweils einen natürlichen Tod. Das hohe Alter und die Krankheiten eben. Das sechste, 82-jährige Opfer überlebt zufällig die Attacke, und man kommt dem Täter auf die Spur, der weitergemordet hätte. Bei einer Obduktion der vorherigen Opfer wäre man dem Mörder früher auf die Spur gekommen.

Die Autorin verweist darauf, dass elf von 32 Lehrstühlen für Rechtsmedizin an deutschen Universitäten seit 1993 »verloren« gegangen oder nicht neu besetzt worden sind; bis 2010 wurden die Mittel für diese Disziplin um mehr als die Hälfte gekürzt. Obduktionen sind teuer, und der Staat kann sich die angeblich nicht leisten. Die Gerichtsmediziner schlagen seit Jahren Alarm, aber niemand in der Politik reagiert. Wieder einmal bleiben Gerechtigkeit und die Sicherheit der kleinen Bürger auf der Strecke. Auch im letzten Kapitel, das in Wüstenbrand in Sachsen spielt, stirbt ein Rentner erst einmal an »Herzversagen«, bevor man der Mörderin endlich auf die Schliche kommt.

Zwischen diesen beiden Kapiteln gibt es u. a. interessante Ausführungen über einen Mord vor tausend Jahren und damit über die Zusammenarbeit von Rechtsmedizinern und Archäologen, über ein grausiges Verbrechen in Leipzig, bei dem ein Mann sterben musste, weil er den Kühlschrank leergegessen hatte, und über ein »Sex-Monster« aus Sachsen. Die Autorin hat dabei immer den Gerichtsmedizinern über die Schulter geschaut und deren gutachterlichen Ergebnisse so einfließen lassen, dass auch der Leser diese gut nachvollziehen kann.

Unter dem Titel »Tödliche Lust« geht Claudia Puhlfürst auf die autoerotischen Unfälle ein, die eine Männerdomäne sind (99 Prozent aller bekannten Fälle). Berühmte verunfallte Autoerotiker wie der US-amerikanische Schauspieler David Carradine und der INXS-Sänger Michael Hutchence treten in diesem Stück auf. Autoerotik, was nicht Sex im Auto heißt, beinhaltet die absonderlichsten Masturbationstechniken, u. a. durch Strangulieren, Sauerstoffmangel und Strom. Und manche verunfallen halt dabei, weil ihnen die Prozesse aus dem Ruder laufen. Der Vater von David Carradine gibt uns in diesem Kapitel sogar Lebenshilfe: »Tu nichts, wobei du nicht tot erwischt werden willst.«

Die schon im Internet kursierende Dissertation »Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern« aus dem Jahre 1978 zeigt, dass der Lustgewinn aus vielen Quellen geschöpft werden kann. Die Ausreden, warum sich die Betroffenen mit dem Staubsauger Marke »Kobold« verletzt hatten, sind überaus kurios. Aber die muss man halt selber lesen.

In diesem sehr informativen Buch wird die ganze Bandbreite der Rechtsmedizin deutlich, bei der es nicht nur um Tote geht, sondern auch um die Begutachtung von Lebenden. Und das ist doch ein optimistischer Ausblick.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal