»Medien brauchen keine Wirklichkeit mehr«

Wolfgang Thierse und ARD-Chefredakteur Thomas Baumann diskutierten über die Daseinsberechtigung politischer Talkshows

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn sich ein renommierter Politiker und ein ARD-Redakteur über Talkshows unterhalten, erfährt der Zuschauer so manches über den Politik- und Medienbetrieb.

»Hart aber fair«, »Anne Will« oder »Günther Jauch« - politische Talkshows haben Konjunktur bei der ARD. Einigen wird der Boom offenbar unheimlich. So zitierte der »Spiegel« am Montag aus einem internen ARD-Papier, wonach Programmchef Volker Herres dafür plädiere, eine der fünf Talkshows zu streichen. Die richtige Zeit also, sich mit den Talkformaten auseinanderzusetzen. Auf Einladung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags diskutierten Bundestagsvize Wolfgang Thierse (SPD) und ARD-Chefredakteur Thomas Baumann am Donnerstag über Sinn und Unsinn dieser Shows.

Moderator Ulrich Schöler erinnerte eingangs an ein Zitat des ehemaligen CDU-Fraktionsvizes Friedrich Merz, wonach die Talkshow von Sabine Christiansen die politische Agenda mehr beeinflusse als der Bundestag. Zwar gibt es die Talkshow von Christiansen nicht mehr, doch das teilweise fragwürdige Agenda-Setting der populären Sendungen ist geblieben.

Wolfgang Thierse gab sich als unversöhnlicher Talkshow-Kritiker: »Die Medien brauchen keine Wirklichkeit mehr, sie können eigene Wirklichkeit schaffen.« Und eben das täten die Talkshows auch, so Thierse. Zudem hätten die Formate die »Zweck-Mittel-Relation umgekehrt«. Politik sei »zu einem Mittel der Unterhaltung« geworden, meinte der Sozialdemokrat und brachte die systemischen Folgen dieser Entwicklung auf die kurze Formel: »Zuspitzung, Skandalisierung und Personalisierung«. So richtig widersprechen konnte Thomas Baumann dem nicht. Man betreibe keine Skandalisierung, »sondern Zuspitzung«, korrigierte der Redakteur. Er rechtfertigte das Vorgehen seiner Kollegen auch mit den veränderten Bedürfnissen der Zuschauer: »Menschen wollen nur noch begrenztes Zeitbudget für Politik ausgeben«, und das müssten die Fernsehmacher berücksichtigen. Wobei die jungen Zuschauer offenbar jegliches Interesse an Politik verloren haben. Nur sieben Prozent der Zuschauer, die regelmäßig »Günther Jauch« schauen, sind jünger als 49 Jahre. Die ARD kämpfe halt auch gegen Formate der Privaten, so Baumann. Während sich am Montag sechs Millionen Deutsche »Bauer sucht Frau« auf RTL ansehen, entscheiden sich nur drei Millionen für »Hart aber fair« auf ARD.

Thierse ließ diese Einwände nicht gelten. Vor allem kritisierte er, dass sich die immer gleichen Politiker in den Talkshows tummelten. »Die Auswahl der Gäste folgt der Logik der Dramaturgie«, so Thierse. Damit traf der Bundestagsvize den wunden Punkt. So fordert selbst ein internes Papier des ARD-Beirates, »aktiv nach neuen Gesichtern zu suchen, nach Querdenkern und zum Beispiel Gästen unter 40 Jahren«. Der Beirat stört sich ebenso wie Thierse an den ständig wiederkehrenden Gesichtern. Zwischen September 2011 und April 2012 seien 38 Personen mindestens dreimal zu Gast in den ARD-Talks gewesen, heißt es in dem Papier. 14 Gäste waren mindestens viermal da. Die Stars der Szene wie Ursula von der Leyen, Hans-Ulrich Jörges oder Sahra Wagenknecht kamen gar auf fünf Einladungen.

Baumann gab zu bedenken, dass es schwierig sei, bei heiklen Themen überhaupt Gesprächspartner zu finden. So habe man für eine Talkshow zu Rüstungsexporten bei jenen Bundestagsfraktionen angefragt, die für Ausfuhren deutscher Panzer nach Saudi-Arabien sind. Bei Union und FDP war aber niemand bereit, in die Sendung zu kommen.

Thierse wiederum kritisierte, dass es den privaten Produktionsfirmen, die oft den Moderatoren gehören, vor allem ums Geld gehe. Baumann wiegelte ab: In den Firmen geschehe nichts »außerhalb der Kontrolle«. Ohnehin funktioniere das Geschäft nach den immer gleichen Regeln: Man sucht kontroverse Themen und lädt sich Gäste ein, die dazu gegensätzliche Positionen vertreten.

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