Kairo scheint wie immer, doch unter der Oberfläche brodelt es

21 Monate nach dem Machtwechsel im Land am Nil offenbaren sich alle sozialen Konflikte

  • Christine Buchholz
  • Lesedauer: 6 Min.
Am Tag vor unserer Abreise rief uns das Auswärtige Amt an: Aufgrund der Sicherheitslage werde uns dringend abgeraten, nach Ägypten zu fahren. Tatsächlich konnten die Fernsehberichte über die wütenden Proteste vor der US-amerikanischen Botschaft gegen ein antiislamisches Schmähvideo den Eindruck hervorrufen, das Land nähere sich einem bürgerkriegsähnlichen Zustand. Als wir am Abend des 15. September in Kairo ankommen, ist davon nichts zu spüren.
Kamal Abu Aita mit Kollegin.
Kamal Abu Aita mit Kollegin.

Kairo ist wie immer. Nur der Verkehr sei noch dichter als sonst, so unser Fahrer. Denn ein Teil der Busdepots und Minibusse befände sich im Streik.

Es ist Samstagabend, 21 Uhr, und wir quälen uns als Teil einer riesigen, rußenden Blechlawine Richtung Innenstadt. Nicht zu übersehen ist die allgemeine Armut, die Mängel in der Infrastruktur sowie der Verfall der vielstöckigen Mietshäuser, die das Stadtbild prägen.

Am nächsten Tag wollen wir zum Tahrirplatz, dem Symbol der Revolution von 2011. Doch vorher steigen wir am nahe gelegenen Parlament aus. An einem kleinen Streikposten redet ein Lehrer gegen den Straßenlärm an. Er erklärt, die Lehrer nutzten den ersten Schultag nach den Ferien, um zu streiken. Insgesamt seien heute 10 000 Lehrkräfte in sieben Provinzen im Ausstand.

Die Lehrer verlangen ein Monatsgehalt von 3000 Ägyptischen Pfund, das entspricht 370 Euro. Außerdem fordern sie unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, Verbesserungen bei der Rentenberechnung sowie die Entlassung inkompetenter Ministerialbürokraten.

Auf einem der zahlreichen Protestschilder steht geschrieben: »Bildung ist ein Recht für alle«. Nachdem unser Interesse am Streikposten zur Bildung einer kleinen Traube von Passanten führte, umringen uns plötzlich Arbeiter eines metallverarbeitenden Unternehmens, die gerade gefeuert wurden. Sie fordern Arbeitsverträge von der Regierung.

Wir fahren weiter zur Universität von Kairo. Dort streiken, wie in acht weiteren staatlichen Universitäten im Land, die Verwaltungsangestellten. Auch sie fordern Verträge und bessere Bezahlung.

Uns wird klar: Die Revolution geht in die Tiefe. Muslimbruder Mohammed Mursi hat im Juni die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Doch die Islamisten haben den Umwälzungsprozess nicht einfach abwürgen können. Mursi ist mit einer ungeheuren Welle an sozialen Konflikten konfrontiert. In den Monaten August und September werden 1400 Streiks gezählt.

Wir wollen dem auf den Grund gehen und treffen uns mit dem Vorstand des unabhängigen Gewerkschaftsdachverbandes EFITU. Kamal Abu Aita, der legendäre Vorsitzende der EFITU, begrüßt uns. Neben ihm sitzen ein paar Männer und eine Frau. Die Räumlichkeiten sind ärmlich, die Kollegen wirken abgekämpft. Es geht lebendig zu. Ein ständiges Kommen und Gehen, Handys surren. Die Gewerkschafter wirken dabei sehr zielstrebig.

Zum ersten Mal: Beamte im Streik

Kamal beginnt und betont, dass die Revolution am 25. Januar 2011 begann, ihre Wurzeln aber weit zurückreichen. Er nennt die Hungerrevolte von 1977, dann den Streik im landesweit größten Textilwerk in Mahalla al-Kubra von 2006.

Er berichtet stolz vom Kampf der Finanzbeamten, den er im Dezember 2007 selbst mit angeführt hat. Es war das erste Mal, dass Angestellte der Regierung im großen Maßstab revoltierten. 55 000 Beamte gingen damals in den illegalen Ausstand. Eine Sitzblockade vor dem Finanzministerium sorgte dafür, dass nach elf Tagen alle Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Aus dem Streikkomitee ging die Gewerkschaft der Finanzbeamten hervor; diese bildet den Kern der im Herbst 2011 gegründeten EFITU. Heute repräsentieren die aus der Revolution hervorgegangenen staatsunabhängigen Gewerkschaften 2,4 Millionen Arbeiter.

Der Widerstand der Arbeiter ist ein Teil der ägyptischen Wirklichkeit. Doch es gibt auch einen anderen Teil. Der Repressionsapparat der Mubarak-Ära ist noch nicht zerbrochen, sondern weiter aktiv.

Das können wir spüren, als wir endlich am Tahrirplatz ankommen und in die Mohammed-Mahmud-Straße einbiegen. In der Nähe befindet sich das Innenministerium. Hier hat es im letzten Jahr mehrfach heftige Kämpfe mit der Polizei gegeben. Graffiti zeigen die Brutalität des Militärs und der Polizei. Überall sind Bilder von Märtyrern zu sehen.

Auf mehreren Wänden sehen wir das Konterfei einer jungen Frau. Es ist Samira Ibrahim. Sie wurde zu einer Ikone des Protestes. Nachdem sie zusammen mit anderen Frauen am 9. März 2011 verhaftet wurde, unterzog man sie und mindestens 16 weitere Frauen einem Jungfräulichkeitstest. Samira wehrte sich und klagte gegen diese Praxis.

Sie bekam Recht, und so sind Jungfräulichkeitstests zumindest auf dem Papier verboten. Samira ist eine der Heldinnen der ägyptischen Revolution. Sie ist ein Beispiel, dass im Zuge der Revolution die Menschen die Angst vor dem Repressionsapparat überwunden haben.

Eine Vorstellung von diesem Apparat bekommen wir, als wir die Graffiti betrachten. Mehrere Mannschaftswagen der Aufstandsbekämpfungspolizei stehen neben den Wandmalereien. Wir werden von einem Offizier angepöbelt. Die ägyptische Fotografin, die uns begleitet, wird bedroht. »Heute trauen sie sich nicht, uns anzugreifen«, sagt sie. »Das war früher anders.«

Der Hass auf die Polizei und die Angst vor einer Rückkehr der alten Kräfte ist allgegenwärtig. Aus triftigem Grund. Wir treffen am nächsten Tag Aida Seif al-Dawla. Sie leitet das Nadim-Zentrum zur Behandlung von Gewaltopfern.

Aida sagt: »Seit der Revolution hat sich in Bezug auf Folter nichts verbessert.« Aber Aida beeindruckt uns durch ihren Optimismus. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass die Revolution trotz allem einen wichtigen Fortschritt gebracht hat: »Heute wissen die Leute, dass sie sich wehren können,« so Aida.

»Das Grundproblem ist, dass wir eine Revolution erleben, die den Diktator beseitigt und das Selbstbewusstsein der Unterdrückten gehoben hat, der Staatsapparat d es alten Regimes aber unverändert bestehen blieb. Dies spitzt die Konfrontationen zu.«

Wir treffen Linke wie den Präsidentschaftskandidaten Hamdin Sabahi, der bei den Wahlen überraschend auf den dritten Platz mit mehr als 20 Prozent gekommen war. Oder Hossam Hama᠆lawy, ein bekannter Blogger, der bei der Gruppe »Revolutionäre Sozialisten« organisiert ist. Sie alle stehen für eine Botschaft: »Der Konflikt verläuft nicht zwischen religiös und säkular. Der Konflikt verläuft zwischen Oben und Unten«.

Mursi ist schwächer als es aussieht

Hossam sagt: »Präsident Mursi ist nicht allmächtig. Tatsächlich ist er viel schwächer, als es aussieht. Er sitzt oben drauf, aber kann nichts wirklich kontrollieren. Deshalb schwankt er, je nachdem, von wo der Druck am größten ist. Überall gibt es Streiks, in jedem Sektor. Selbst die Polizei ist derzeit schwer kontrollierbar, weil es immer wieder Meutereien gibt .«

Drei intensive Tage in Ägypten haben uns vor Augen geführt, dass viel auf dem Spiel steht, wenn die Revolution nicht erfolgreich ist. Keiner weiß, wohin dann die Reise geht.

Das alte Regime ist verhasst. Die Muslimbrüder, die dieses Jahr die Regierungsgewalt erobern konnten, sind aber dabei, das Vertrauen ihrer Wähler zu verspielen. Die Linke ist noch zu zersplittert, doch es gibt Anzeichen, dass sie Anhänger gewinnt. Mir verleihen der Mut, das Engagement, der Stolz und die Leidenschaft der Aktivistinnen und Aktivisten Zuversicht, dass sie ihren Kampf erfolgreich weiterführen werden. Dafür verdienen sie unsere Unterstützung.

Weiteres zu den Reisen der Delegation nach Ägypten sowie nach Tunesien unter: www.christinebuchholz.de

Die LINKE-Abgeordnete Annette Groth (2. v. r.) und die Autorin
(r.) mit Kairoer Studenten.
Die LINKE-Abgeordnete Annette Groth (2. v. r.) und die Autorin (r.) mit Kairoer Studenten.
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