EU-Flaggschiff in Seenot

Austauschprogramm für Studenten und Hochschulpersonal »Erasmus« ist gefährdet

Mit den gescheiterten EU-Haushaltsverhandlungen für 2013 ist auch der von der Kommission eingereichte Nachtragshaushalt für 2012 geplatzt. Ein Zahlungsausfall würde spätestens in einem halben Jahr eine Kluft in den Etat des Austauschprogramms reißen.

Normalerweise bekommt man zum Geburtstag etwas geschenkt. Bei der Europäischen Union ist das anders, wenn Parlament und Rat ihren ewigen Kampf um Gelder ausfechten. Dem »Programm für lebenslanges Lernen« (LLP), zu dem auch Erasmus gehört, fehlen im laufenden EU-Haushalt 180 Millionen Euro, 90 Millionen davon für das Austauschprogramm für Studierende und Hochschulpersonal. Diese sollten eigentlich über einen, bisher nicht verabschiedeten, Berichtigungshaushalt gesichert werden. Doch wenn sich die Regierungen der »Nettozahler« weiter querstellen, gibt es im schlimmsten Fall ausgerechnet zum diesjährigen 25. Jubiläum von Erasmus Stipendienkürzungen, weniger Austauschplätze und Einschnitte bei Kooperationen. »Bildung ist allen Regierungen auf dem Papier sehr wichtig, aber Geld ist dafür selten da«, sagt dazu der LINKE-Europaabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Bildungsausschusses im EU-Parlament, Lothar Bisky.

Noch gibt es allerdings keinen Grund zur Panik, denn laut EU-Kommission wurden bisher alle zugesagten Gelder für das Studienjahr 2011/12 an die in den einzelnen Ländern zuständigen Agenturen überwiesen. In Deutschland verwaltet der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) die Zahlungen aus Brüssel. Der DAAD-Erasmus-Beauftragte Siegbert Wuttig bestätigte in der »Süddeutschen Zeitung«, dass sich Studenten bis zum Sommersemester 2013 um ihre recht schmale finanzielle Unterstützung keine Sorgen machen müssten. Die Agenturen hätten außerdem in einzelnen Ländern Rücklagen gebildet, aus denen sie Engpässe bezahlen könnten.

Was nach dem Sommer 2013 geschieht, ist jedoch recht nebulös. Sollte das fehlende Geld für Erasmus nicht über einen Nachtragshaushalt kommen, wird es, so der Plan der Kommission, aus dem ebenfalls noch nicht beschlossenen Haushalt für das Jahr 2013 abgezwackt. Die Kommission überlegt auch, noch nicht verwendete Mittel anderer Stellen auf das Austauschprogramm umzuwälzen. Da aber gen Ende dieses Jahres insgesamt nur 500 Millionen Euro für derartige Verschiebungen zur Verfügung stehen, ist dies recht aussichtslos. Denn das LLP ist bei Weitem nicht der einzige defizitäre Haushaltsposten.

Seit 1987 schreibt sich die Erfolgsgeschichte Erasmus nun schon fort. Damals brachen die ersten wagemutigen 657 Studenten aus Deutschland ins Unbekannte auf. Heute sind es jährlich über 25 000. Insgesamt waren in den vergangenen 25 Jahren rund 2,7 Millionen europäische Studenten kreuz und quer auf dem Kontinent unterwegs.

Anfang 2014 soll das LLP grundlegend reformiert werden. Alle bisherigen Programme (Leonardo, Erasmus und Grundtvig) werden dann unter dem Namen »Erasmus for All« zusammengefasst, so plant es die Kommission. Bis dahin sollte der mehrjährige Finanzrahmen der EU für 2014 bis 2020 stehen, denn die Reformpläne sehen einen Etat von 19 Milliarden Euro vor. »19 Milliarden sind ein schöner Traum, aber wenn es bei dem Geld bleiben würde, das momentan zur Verfügung steht, wäre das schon ein Fortschritt«, so Bisky.


Erasmus in Zahlen

  • 17. Juni 1987: Beginn des Erasmus-Progamms - benannt nach dem holländischen Humanisten, der im 15. Jahrhundert an den namhaften Universitäten Europas studierte - mit dem ersten Austausch von 3244 Studenten zwischen elf EU-Mitgliedstaaten. Heute beteiligen sich 33 europäische Länder, darunter auch die Türkei und die Schweiz.
  • Bis 2012 kam das Programm 2,7 Millionen Studierenden zugute. Derzeit erhalten vier Prozent aller Studierenden der teilnehmenden Länder eine Förderung für einen Auslandsaufenthalt.
  • Seit 2007 ist Erasmus Teil des Programms für lebenslanges Lernen. Dazu gehört auch die Möglichkeit für Studierende, ein Praktikum im Ausland zu absolvieren. Das Programm verfügt für den Zeitraum von 2007 bis 2013 über 3,1 Milliarden Euro.
  • Spanien entsandte in den letzten Jahren die meisten Studierenden ins Ausland, gefolgt von Frankreich, Deutschland, Italien und Polen. Insgesamt gingen 190 495 Studierende 2010/11 in ein anderes Land. Die Dauer des Aufenthalts beträgt durchschnittlich sechs Monate. Möglich sind drei bis zwölf Monate.
  • Das durchschnittliche monatliche Stipendium betrug im Studienjahr 2010/11 250 Euro.
  • Studierende der Sozialwissenschaften, Betriebs- und Rechtswissenschaft stellen den größten Anteil (34,7 Prozent) an den Austauschen, vor Studierenden in den Geisteswissenschaften und Künsten (31,5 Prozent).

nd/Quelle: EU

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