Inklusion ist nicht mehr als ein Etikett
Das gemeinsame Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten funktioniert - in der Theorie
nd: Bei Ihrem siebenjährigen Sohn Hannes wurde das Asperger Syndrom diagnostiziert. Was zeichnet das Syndrom aus?
Katrin Schmidt*: Hannes kann kaum Emotionen anderer nachvollziehen noch eigene einbringen. Langsam lernt er, Gefühle zu interpretieren. Aber dass Emotionen Botschaften für ihn beinhalten, versteht er noch nicht.
Christian Schmidt*: Während andere Kinder Gesten und Mimik intuitiv durch Nachahmung verinnerlichen, erlernen viele Asperger Kinder Gefühle »kognitiv«.
K. S.: Hannes hat außerdem eine schlechte Körperwahrnehmung, was im Zusammenleben oft Spannungen erzeugt.
C. S.: Und ihm ist die Bandbreite verbaler Kommunikation fremd, also Tonfall und Lautstärke. Nicht selten redet er sehr viel und sehr laut. Dabei ist es ihm total schnuppe, ob jemand da ist und zuhört.
Wodurch sind Sie darauf aufmerksam geworden, dass Hannes' Entwicklung einer Störung unterliegt?
K. S.: Im Alter von drei Jahren hat uns eine Erzieherin in der Kita angesprochen. Hannes reagierte häufig sehr aggressiv. Wir beantragten dann einen Integrationsstatus (I-Status) mit dem Schwerpunkt »soziale-emotionale Kompetenz«.
Wie verlief die Integration?
C. S.: Die Kita war klein und seine Erzieherin konnte Hannes nehmen, wie er war.
K. S.: Sie ließ sich komplett auf ihn ein. Zum Beispiel hörte sie ein halbes Jahr mit ihm »Die Zauberflöte« von Mozart und spielte oder bastelte mit ihm alles nach.
C. S.: So gelang es ihr, dass sich die anderen Kinder für Hannes interessierten. Kinder, die erst Angst hatten, weil Hannes Haare ausreißend um sich schlug, merkten, dass er etwas einbringt, was ihnen Spaß machte. Sie haben dann gemeinsam die Oper nachgespielt und sich verkleidet.
K. S.: Das wiederum hat auf Hannes zurückgewirkt. Er fühlte sich anerkannt und gehörte am Ende in diese Gruppe wie alle anderen für ihn auch.
Hannes ist jetzt in der dritten Klasse einer Regelschule. Lernt er gern?
C. S.: Er hasst Schule. Dort würde er nur arbeiten und nichts lernen, sagt er. Lernen ist für ihn etwas anderes als Übungen zu absolvieren, die Routine oder gewisses Lernen erbringen.
Was ist für ihn Lernen?
C. S.: Er hat oft spezielle, monothematische Interessen und ist unglaublich neugierig. Dann eignet er sich über einen bestimmten Zeitraum ein Thema an und kennt nichts anderes.
K. S.: Er lernt über Geschichten. Den Religionsunterricht liebt er, weil sie die Geschichten nachspielen. Er liebt auch das Nachahmen naturwissenschaftlicher Experimente früherer Zeiten.
Stand es fest, dass Hannes zur Regelschule geht? Er hatte ja den Integrationsstatus.
K. S.: Den hat man nur bis zum Ende einer Maßnahme, wie es so schön heißt. Der I-Status »soziale-emotionale Kompetenz« wird erst ab dritter Klasse wieder vergeben. Integrationskind ist man bei der Einschulung nur bei einer speziellen Behinderung. Die Vermittlung von »sozialer-emotionaler Kompetenz« soll laut Inklusion die Schule leisten. Theoretisch soll sie genug Mittel und Kräfte haben, die Defizite auszugleichen.
Haben Sie der Schule mitgeteilt, dass Hannes einen I-Status hatte?
K. S.: Vor der Einschulung wird die Schule informiert, wenn Kinder einen I-Status haben. Wir hatten dann ein Elterngespräch, auch weil Hannes bei der Schuleingangsuntersuchung motorische Probleme zeigte. Allerdings erfuhren weder die zuständige Lehrerin noch die Erzieherin, dass sie ein auffälliges Kind bekommen würden. Als wir kurz vor Schulantritt beiden davon erzählten, fiel seine Lehrerin aus allen Wolken.
Ein schlechter Start.
K. S.: Ja. Hannes konnte sein Unbehagen aber nur körperlich äußern. Er drückte Kinder, schlug um sich und schmiss Stühle um. Die Schule meinte das disziplinarisch bekämpfen zu müssen, was mit Hannes nicht geht. Folglich steigerte sich alles, bis die Schule sagte, sie könne ihm nicht gerecht werden und wir müssten eine Integrationshilfe beantragen, wofür wir eine Diagnose bräuchten.
Was kam auf Sie zu?
K. S.: Wegen der Wahrnehmungsstörung wandte ich mich an den Autistenverband, der uns ein gutes Institut empfahl. Das bedeutete für Hannes sieben oder acht Untersuchungstermine und für uns ganze Urlaubstage. Insgesamt erstreckte sich die Diagnostik fast über das ganze erste Schuljahr.
Waren Sie, Hannes, die Schule und der Hort in dieser Zeit sich selbst überlassen?
C. S.: Ja, und es eskalierte. Kurz vor Ende des Schuljahres wurden wir plötzlich eindringlich gebeten, Hannes nicht mehr in den Hort zu geben, weil die Erzieherin, die Hannes sehr schätzte, einen Nervenzusammenbruch hatte. Wir waren auch durch die Plötzlichkeit geschockt.
K S.: Ab sofort sollten wir Hannes um 13.30 Uhr aus der Schule abholen. Das war für uns unmöglich - ich fürchtete, meine Arbeit zu verlieren.
C. S.: Wir waren wirklich in einem großen Konflikt. Einerseits ist die Schule aufsichtspflichtig, andererseits sahen wir die reale Personalsituation und merkten, da hat eine Frau, die wir schätzen, einen Nervenzusammenbruch. Hätten wir nicht das große Glück, dass unsere Eltern in der Stadt leben, hätte einer von uns beruflich zurücktreten müssen. Wir müssen beide arbeiten.
K. S.: Also holte ich Hannes an manchen Tagen ab, an anderen sprangen meine Eltern ein. An diesen Tagen arbeitete ich bis 20 Uhr, um die Zeiten wieder aufzuholen.
C. S.: Rechtlich stand uns eine Betreuung zu. Wir wollten aber die Situation nicht weiter zuspitzen. Letztlich haben wir Eltern den Personalmangel der Schule geschultert.
Wie ging es weiter?
K. S.: Wir mussten mit der Diagnose zum Gesundheitsamt, damit der Status des Kindes festgestellt wird. Mit dieser Einstufung konnten wir die Integration beantragen. Hannes bekam neun Stunden sonderpädagogischen Bedarf die Woche, zusätzlich neun oder zehn Stunden Schulhelfer plus zwanzig Stunden nachmittags.
Und es trat Ruhe ein?
K. S.: Kaum, denn der Sonderpädagoge kam erst in den letzten drei Wochen des zweiten Schuljahres. Es gab Hilfskonstruktionen mit anderen Lehrern, die aber keine sonderpädagogische Ausbildung haben.
Wie begründet die Schule, dass sie ihr Soll nicht erfüllte?
K. S.: Es tat ihnen leid. Sie müssten einen regulären Lehrer entlassen, um einen Sonderpädagogen einstellen zu können. Alle Sonderstunden, also der sonderpädagogische Förderbedarf, Musik, Kunst und so weiter, liefen in einen Pool. Aus diesem stellt dann der Schulleiter Lehrer ein.
Für wie lange gibt es die Hilfe für Hannes?
K. S.: Die Schulhelferin wird immer nur für ein Schuljahr genehmigt. Die Sonderpädagogin und die Erzieherin haben wir bis zum Ende der vierten Klasse. Danach müssen wir alles neu beantragen. Wenn es schlecht läuft, müssen wir für alle drei Maßnahmen einen eigenen Antrag stellen. Mit einem extra Verfahren und immer anderen Ansprechpartnern, die alle noch einmal Hannes sehen wollen. Aber Hannes ist ein Mensch und kein Auto, das ich vorführe, auf das man eben noch einmal einen Blick wirft.
Was müsste eine inklusive Schule erfüllen?
K. S.: Inklusion heißt investieren. Personell ist diese Schule so schlecht besetzt, dass, sobald ein Lehrer fehlt, der Sonderpädagoge abgezogen wird. Wenn der nicht da ist, springt die Schulhelferin ein.
C. S.: Eine Schule zu koordinieren, mit Pool und allem, dass alle einigermaßen gerade noch zufrieden sind oder zumindest nicht auf die Barrikaden gehen, ist bestimmt eine große Herausforderung. Aber insgesamt fehlen einfach Mittel. Das geht hin bis zur Reinigung des Schulgebäudes und Reparaturarbeiten, die die Eltern übernehmen müssen. Unter diesem riesengroßen Geldmangel leidet die Pädagogik und leiden die Kinder.
* Namen von der Redaktion geändert.
2008 hat Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten ratifiziert. Damit hat sich die Bundesrepublik dazu verpflichtet, Sonderschulen für Behinderte nach und nach aufzulösen und behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten. 2012 wurde von Politikern und Verbänden zum Jahr der Inklusion erklärt. Obgleich Deutschland von der UNESCO 2011 angemahnt wurde, die Inklusion zügig umzusetzen, kommt sie nur schleppend voran. Ein Grund ist das Spardiktat, unter dem die Bildung leidet. Es fehlt an Räumen, Lehrkräften, adäquater Lehrerbildung, Lehrerfortbildung und Förderung multiprofessioneller Teams. Die Umsetzung erfolgt aber auch deswegen schleppend, weil die Zusammenarbeit der Schulen mit außerschulischen Hilfesystemen schlecht funktioniert. Dies geht zu Lasten der bedürftigen Kinder und deren Eltern. Lena Tietgen hat für »nd« mit einem Berliner Elternpar gesprochen, bei deren Sohn vor Schuleintritt das »Asperger Syndrom« diagnostiziert wurde, eine spezielle Form des Autismus. Während die Inklusion in der Kita noch problemlos funktionierte, scheiterte die Regelschule an der Integration des Kindes.
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