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Alle zwölf Minuten eine Klage

Das Berliner Sozialgericht kommt kaum noch hinterher. Schuld daran sind vor allem die schwammig formulierten Hartz-IV-Gesetze

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 2 Min.
Das größte deutsche Sozialgericht in Berlin versinkt in Aktenbergen. Rein rechnerisch geht bei den Richtern alle zwölf Minuten eine neue Klage ein. Die meisten davon betreffen Hartz IV. Zudem warnte Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma am Donnerstag vor einem gefährlichen Trend: Immer mehr Arbeit werde »an der Sozialversicherung vorbei organisiert«.

Es gibt Rekorde, über die sich niemand so recht freuen mag. Am Donnerstag konnte Berlins oberste Sozialrichterin Sabine Schudoma einen solchen fragwürdigen Rekord vermelden. Nie zuvor in seiner 45-jährigen Geschichte musste das Gericht so viele Klagen annehmen wie 2012. Insgesamt mehr als 44 300. Jeden Monat kämen 3700 neue Klagen hinzu, so Schudoma. Damit wachse »der Berg der unerledigten Verfahren«. Derzeit warten mehr als 42 400 auf ihre Erledigung. »Wir müssten ein Jahr schließen, um diesen Aktenberg abzuarbeiten«, erklärte Schudoma.

Rein rechnerisch geht beim Berliner Sozialgericht alle zwölf Minuten eine Klage ein. Kein Wunder, dass die 129 Richter kaum noch hinterherkommen. Dabei sei ihr Gericht im Bundesvergleich sehr effizient: »Nirgends in Deutschland arbeiten die Sozialrichter schneller als in Berlin.« Im Durchschnitt sei ein Klageverfahren innerhalb eines Jahres erledigt, ein Hartz-IV-Verfahren sogar nach zehn Monaten. Ein Eilverfahren dauere weniger als einen Monat.

Für Schudoma ist der letztjährige Klagerekord »nicht nur Folge der Hartz-IV-Gesetzgebung«. Vielmehr sei ihr Gericht ein »Seismograph«, der »die Erschütterungen im deutschen Sozialsystem« spüre. Wie an anderen Sozialgerichten der Republik vollzog sich auch in Berlin ein schleichender Paradigmenwechsel. Noch vor wenigen Jahren stritt man hauptsächlich um Leistungen aus Sozialversicherungssystemen, die überwiegend durch Beiträge finanziert wurden. Also etwa die Renten- oder Arbeitslosenversicherung. »Der Leistungsanspruch war Ergebnis der Erwerbsbiografie«, so Schudoma.

Heute hingegen stehe die »steuerfinanzierte Existenzsicherung im Fokus«. Für die Präsidentin des Gerichts ist dies auch ein Zeichen für die sinkende Bedeutung der Sozialversicherung. »Erhebliche Teile des Arbeitsmarktes werden bewusst an der Sozialversicherung vorbei organisiert.« Dazu zählen neben Schwarzarbeit ganz legale Möglichkeiten, wie etwa Minijobs.

Auch wenn die Bundesagentur für Arbeit am Donnerstag behauptete, dass die Zahl der Hartz-IV-Klagen bundesweit um zehn Prozent gesunken sei, blieb der Rechtsstreit mit den Jobcentern der Dauerbrenner in Berlin. Rund 65 Prozent aller Klagen betrafen Probleme rund um das Sozialgesetzbuch II, das Hartz regelt. Wie sehr die Reformen die Arbeitsbelastung der Richter vergrößerten, zeigt ein Blick auf die Zeitachse. Verzeichnete das Gericht 2004, dem Jahr vor Hartz IV, rund 17 500 Klagen, waren es 2010 bereits fast 40 000. Seitdem hält sich die Klageflut über dieser Marke.

In diesen Verfahren gehe es vor allem um die Bearbeitungsfristen der Jobcenter, die Anrechnung von Einkommen, um Sanktionen oder die Kosten der Unterkunft. »Immer wieder geht es auch um die Auslegung unbestimmter Vorschriften, um offene Rechtsfragen«, betonte Schudoma. Eine Spitze gegen die Hartz-IV-Gesetze, die oft schlampig formuliert sind. Und so war mehr als die Hälfte der Klagen gegen Jobcenter berechtigt.

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