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Rojava: Angriffe auf die Würde

In Rojava stehen die Fortschritte der kurdischen Frauenbewegung auf dem Spiel

  • Lea Kleinsorge, Tabqa
  • Lesedauer: 8 Min.
An vielen Orten in Rojava leben Menschen in Notunterkünften. Sie sind vor der türkischen Armee, vor IS-Kämpfern oder vor der Syrischen Nationalen Armee geflohen.
An vielen Orten in Rojava leben Menschen in Notunterkünften. Sie sind vor der türkischen Armee, vor IS-Kämpfern oder vor der Syrischen Nationalen Armee geflohen.

Hunderte Zelte ziehen sich über eine ausgedörrte Ebene am Rand der Stadt Tabqa. Einst waren sie weiß, doch der Staub der syrischen Steppe hat sie längst beigefärbt. Über ihnen spannt sich ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel – wie an jedem Tag. Seit beinahe einem Jahr hat es hier nicht mehr geregnet.

Tabqa liegt in Rojava, der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, unweit der Grenze zu jenem Gebiet, in dem seit knapp einem Jahr die neue Regierung unter Ahmed Al-Scharaa herrscht. Hier haben hunderte Familien Zuflucht gefunden, die im vergangenen Winter vor der Machtübernahme der Dschihadistenkoalition Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) aus ihren Heimatorten fliehen mussten.

Viele von ihnen stammen ursprünglich aus Afrin, rund 200 Kilometer nordwestlich. Von dort wurden sie bereits 2018 vertrieben, als die Türkei einen Großangriff auf die damals noch zur Selbstverwaltung gehörende Region startete. Afrin ist im Camp von Tabqa zu einem Sehnsuchtsort geworden – ein Wort für Heimat, Erinnerung und Hoffnung zugleich. Dort, so erzählen die Bewohner*innen, sei alles grün gewesen, nicht so trocken wie hier.

»Die Selbstverwaltung war in Afrin besonders weit entwickelt. Vor allem die Organisierung der Frauen war sehr stark«, sagt Hevrin. Seit dem vergangenen Winter lebt sie im Camp und engagiert sich dort erneut in der Selbstorganisierung der Frauen. Neben dem Eingang ihres Zelts wachsen Sonnenblumen, deren Köpfe sich trotzig der trockenen Hitze entgegenstrecken. »Der Staat hatte in Afrin an Bedeutung verloren. Genau deshalb wurden wir zum Ziel. Der Angriff richtete sich gegen unsere Selbstorganisierung«, sagt sie mit fester Stimme. In ihren Worten liegen gleichermaßen Stolz und Selbstbewusstsein.

Flucht vor der türkischen Armee

Im Januar 2018 begann die Türkei die »Operation Olivenzweig«, eingeleitet durch massive Luftangriffe. Bereits am ersten Tag waren 72 Kampfflugzeuge im Einsatz – fast ein Viertel der gesamten türkischen Luftwaffe. Die Offensive, die in Kooperation mit syrischen islamistischen Milizen geführt wurde, endete in der Besatzung Afrins.

Nach den Angriffen floh die kurdische Bevölkerung zunächst in die nahegelegene Region Şehba, die als letzte Enklave der Selbstverwaltung im Kanton Afrin verblieben war. Viele hofften, bald zurückkehren zu können. Doch am 27. November 2024 übernahm die Dschihadistenkoalition HTS in Syrien die Macht. Kurz darauf griffen auch Truppen der Türkei-gestützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) die kurdischen Hochburgen Tel Rifat, Minbij und Şehba an. Wieder fielen Bomben vom Himmel. »Unsere Philosophie ist eigentlich Widerstand«, sagt Hevrin. »Aber wenn wir geblieben wären, hätte es ein Massaker gegeben. Und das kann niemand verantworten.«

Statt nach Afrin zurückzukehren, flohen die Menschen weiter nach Osten, bis nach Tabqa – mitten im tiefsten Winter, nur mit der Kleidung am Leib. Die Verteidigungskräfte der Demokratischen Selbstverwaltung organisierten einen Fluchtkorridor. Auf dem Weg seien mehrere Frauen in ihren Fahrzeugen gezielt angegriffen worden, erzählt Hevrin. »Das waren bewusste Angriffe auf uns als Frauen und auf alles, was wir erreicht haben«, sagt sie. »Nicht nur auf uns hier im Mittleren Osten, sondern auf Frauen auf der ganzen Welt. Alle Frauen müssen wachsam sein. Diese Angriffe richten sich gegen unsere Würde.«

Selbstorganisation im Camp

Auch in Tabqa übernehmen die Frauen eine führende Rolle und versuchen, ihr Leben weiterhin selbst zu verwalten. Sie organisieren Komitees, halten Versammlungen ab und koordinieren sich mit überregionalen Strukturen. »Wir müssen gemeinsam ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Selbstverteidigung entwickeln«, sagt Jiyan, die sich an den Selbstverteidigungsstrukturen des Camps beteiligt. Dazu gehören Nachtwachen, der Umgang mit der Waffe und politisch-philosophische Bildungsarbeit mit den Bewohner*innen. »Wir müssen wissen, wer wir sind und was wir wollen – als Kurden, als Frauen.«

Die Sorge vor den Folgen des Machtwechsels in Syrien ist groß. Erst vor Kurzem kamen bei Angriffen auf die nahegelegene Grenzstadt Deir Hafir mehrere Menschen ums Leben.

Währenddessen präsentiert sich Al-Scharaa auf der internationalen Bühne auf einem Triumphzug. Im September nahm er als erster syrischer Präsident seit sechs Jahrzehnten an der UN-Generalversammlung teil. Die deutsche Bundesregierung drängt unterdessen darauf, Syrien zum sicheren Herkunftsland zu erklären, um Abschiebungen zu ermöglichen. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat Al-Scharaa bereits eingeladen, um Rückführungen voranzubringen.

»Der Staat hatte in Afrin an Bedeutung verloren. Genau deshalb wurden wir zum Ziel. Der Angriff richtete sich gegen unsere Selbstorganisierung.«

Hevrin

Im Camp von Tabqa lässt sich kaum jemand von dem vermeintlichen Wandel beeindrucken, den Al-Scharaa verkörpert. »Was sie uns aufzwingen wollen, ist wieder eine zentralistische Regierung. Aber wir wollen keine erneute staatliche Unterdrückung«, sagt Nesrin bestimmt. Sie ärgert sich darüber, dass man in Europa nicht erkenne, was für ein neues Regime sich in Syrien etabliere. Die Kurdin lebt mit ihrer Familie im Camp – auch sie stammt aus Afrin.

Die ständige Bedrohung weiterer Angriffe lasse keine Ruhe einkehren, erzählt die Familie. Dabei wollten sie einfach nur, dass ihre Kinder wieder zur Schule gehen können. Was sie sich für die Zukunft wünschen? »Wir wollen nicht in einer arabischen, sondern in einer demokratischen Republik leben«, sagt Nesrin. »In einer, in der alle Menschen mit eigenem Willen ihr Leben selbst verwalten können.«

Diese Vision hat in Tabqa bereits konkrete Formen angenommen. Im nahegelegenen Jineolojî-Zentrum arbeiten kurdische und arabische Frauen Seite an Seite. Das Zentrum ist ein Ort des Austauschs, an dem Frauen lernen, sich stärken und organisieren können. »Jineolojî« leitet sich vom kurdischen Wort »jin« für Frau sowie »jîn« für Leben ab und bezeichnet eine feministische Soziologie, die versucht, Leben, Geschichte und Gesellschaft aus der Perspektive von Frauen zu begreifen.

Es duftet nach frisch aufgebrühtem Kardamom-Kaffee. Neben traditionellem Gebäck liegen auf den Tischen Schriften der kurdischen Frauenbewegung sowie Werke Abdullah Öcalans in arabischer Übersetzung. An den Wänden hängen Fotografien feministischer Kämpfe aus aller Welt.

»Durch die Jineolojî lernen wir Frauen aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Gemeinschaften unsere gemeinsamen Schmerzen, Gedanken und Stärken kennen«, sagt Amina, eine arabische Mitarbeiterin des Zentrums. »Wir unterstützen einander und entwickeln gemeinsame Ziele.«

Seit die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) den Islamischen Staat (IS) 2017 aus der Stadt vertrieben haben, sei viel in Bewegung geraten, erzählt Amina. Es habe einen spürbaren Aufbruch gegeben: »Wir haben in den vergangenen Jahren viel gelernt und Dinge verwirklicht, die Errungenschaften für alle Frauen in Syrien sind und uns Mut und Kraft geben.« Der Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Autonomieverwaltung schreibt die Gleichberechtigung der Frau fest; Gewalt gegen Frauen ist strafbar. Öffentliche Ämter müssen nach dem Prinzip des Ko-Vorsitzes zur Hälfte mit Frauen besetzt werden.

Doch die neue Regierung in Syrien bedrohe diese Fortschritte: »Sie haben jetzt angeblich ein paar Vorzeigefrauen auf unteren Ebenen aufgenommen. Aber sie spielen keine echte Rolle«, sagt Amina abwinkend. Die gesamte Mentalität der HTS beruhe auf der Vorstellung, dass Frauen ausschließlich die Rolle der Hausfrau hätten. Die neue syrische Regierung wolle »der ganzen Gesellschaft ihre Auslegung der Scharia aufzwingen«.

»Die Mutter vereinigt«

Trotz ihrer Sorgen um die Zukunft blicken viele Frauen selbstbewusst auf das zurück, was sie in der Selbstverwaltung aufgebaut haben. »Frauen können eine führende Rolle beim Aufbau eines friedlichen Syriens spielen«, sagt Leyla, eine junge Mitarbeiterin des Zentrums. »Sie können einen Mentalitätswandel anstoßen, der die Spaltung zwischen Kurd*innen und Araber*innen überwindet. Es gibt ein arabisches Sprichwort: Die Mutter vereint.« Leyla lächelt und schenkt Kardamom-Kaffee nach. Auch arabische Frauen hätten sich in den vergangenen Jahren stark organisiert, fügt sie hinzu. »Wir wollen nicht noch einmal erleben, was während der IS-Besatzung passiert ist.« Dann sagt sie entschlossen: »Wir akzeptieren nicht, was die HTS uns heute aufzwingen will.«

Noch immer sind IS-Kämpfer in der Region präsent. Erst vor Kurzem setzten sie in der Region Deir Ez-Zor ein Zentrum des arabischen Frauenverbands Zenobiya in Brand.

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Die Frauen versuchen, sich über die Regionen hinweg zu vernetzen, erzählen Mitarbeiterinnen von Zenobiya aus Raqqa. Im September organisierten sie gemeinsam mit dem kurdischen Frauendachverband Kongra Star eine Konferenz in Hesekê, auf der Hunderte Frauen aus ganz Syrien über die Rolle der Frau beim Aufbau eines demokratischen Syriens diskutierten.

An der Konferenz nahmen auch Frauen aus Aleppo, Damaskus und der alawitisch geprägten Westküste teil. Frauen aus dem drusisch geprägten Al-Suweida im Süden schalteten sich per Video zu. Dort hatte es im Juli Massaker an Drus*innen durch mit der syrischen Regierung verbündete Truppen gegeben. Im Mittelpunkt der Konferenz stand die Forderung, Gleichberechtigung verbindlich in einer neuen syrischen Verfassung zu verankern.

Es habe gedauert, die Spuren dessen zu überwinden, was der IS hinterlassen habe, sagt Sara, die bei Zenobiya arbeitet. Beziehungen zwischen Frauen hätten neu geknüpft werden müssen. Und genau das brauche es bis heute: »einen Verband der Freundschaft unter Frauen.« Auf der Konferenz in Hesekê sind sie einen Schritt weiter gekommen. Die Frauen sind miteinander verbunden – und sie blicken trotzig und unbeugsam in die Zukunft.

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