»Kultpotenzial«

In Berlin hat ein Label eröffnet - Mode von der Straße für die Straße

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.

Seit Ende November vergangenen Jahres gibt es ein neues Modelabel in Berlin. Es heißt »Sophisticated People« - »Menschen von Welt«. Marcel, einer der Macher, hätte sich auch vorstellen können, das Label »Complicated People« zu nennen: schwierige Menschen, Menschen mit Problemen. Marcel verfügt über eine gehörige Portion Selbstironie, womit er die anderen manchmal verunsichert. »Marcel«, sagen sie, »den dürfen Sie nicht ernst nehmen.« Aber dass sie Probleme haben, große Probleme, das stimme. Irgendwann in ihrem Leben lief etwas gewaltig schief. Der offizielle Sprachgebrauch bezeichnet sie als »Straßenkinder«.

Natürlich hat sich Alexandra Matthes etwas dabei gedacht, als sie das neue Modelabel ausgerechnet »Menschen von Welt« taufte. »Wir machen Streetwear«, erklärt sie, »und wenn große Designer wie Karl Lagerfeld, die für eine höhere Gesellschaftsschicht arbeiten, Elemente der Straße in ihre Mode integrieren, müssen wir unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Unsere Mode ist echt und ehrlich.« Alexandra Matthes ist selbst Designerin und leitet das Projekt. »Außerdem«, fügt sie nach kurzem Nachdenken hinzu, »sind die Kids hier ja wirklich Menschen von Welt: Sie glauben nicht, was die schon alles gesehen und erlebt haben. Da kann man nur Respekt empfinden.«

Im Behördenverständnis bleiben »Straßenkinder« Straßenkinder, bis sie 28 werden. So sind Alexandra Matthes' »Kids« auch schon junge Erwachsene. Ari, Yvi, Beutel, Neo, Marcel und Liza leben auch nicht mehr wirklich auf der Straße. Wer von ihnen noch nicht in einer betreuten Wohngemeinschaft untergekommen ist, »pennt« bei einem Freund, der ihn bei sich aufnimmt. Lizas »Freund« hat sie gerade vor die Tür gesetzt, jetzt schläft sie bei Beutel. Beutel hat eine Tochter mit Yvi, die jetzt mit Neo zusammen ist. »Die Kids sind seelisch obdachlos«, beschreibt Alexandra Matthes die Situation.

An diesem Nachmittag arbeiten Ari, Yvi, Beutel, Neo, Marcel und Liza im Showroom. Sie haben sich um einen großen Tisch versammelt, über ihnen ein Kristallkronleuchter. Die Kerzen brennen noch nicht, denn durch zwei große Schaufenster flutet klares Winterlicht in den elegant ausgestatteten Raum, in dem sie auch ihre Kunden empfangen. Viele Kunden, um ehrlich zu sein, haben den Showroom von »Sophisticated People« in der Friedrichshainer Seume- straße seit der großen Eröffnungsfeier noch nicht betreten. Das war eine Party! Die Schauspielerin Andrea Sawatzki war da, sie hat die Schirmherrschaft für das Label übernommen. Und sie brachte Kostüme vom Filmset mit, den Grundstock für die Kollektion. Weitere Kleiderspenden kamen bisher unter anderen von AnNa R., Barbara Auer, Julia Koschitz, Filip Peeters, Markus Boysen, Xenia Assenzana und Veronica Ferres. Viel Glamour. So soll es sein. Für die Urban Wear-Recycling-Einzelteil-Kollektion, die entsteht, werden die Kleidungsstücke unter Anleitung von Alexandra Matthes umgearbeitet - zu extravaganten Kleidern, Blusen, T-Shirts, Röcken, Taschen, denen man die Lust ihrer jungen Macher, Konventionen zu brechen, ansieht. Alexandra Matthes spricht in diesem Zusammenhang vom »Charme des Unperfekten«. Die Erlöse aus dem Verkauf flössen in das Projekt zurück: »Wir verkaufen vor allem übers Internet.«

Vorerst »designen« Ari, Yvi, Beutel, Marcel und Liza allerdings vor allem Schlüsselanhänger und kleine Stoffhasen. Schlafhasen, Kuscheltiere. Mit großen Ohren und zwei frechen Zähnen. Oder nur mit einem Zahn, das kann jeder selbst entscheiden. »Die Kids sind zwar voller Ideen, wollen ganz tolle Sachen, am liebsten gleich ein Hochzeitskleid machen, aber ich muss sie ein bisschen bremsen. Solche Entwürfe können sie noch nicht umsetzen«, sagt Alexandra Mattes. Und: »Wir müssen klein anfangen, mit Produkten, die am Ende des Tages fertig sind. Dann haben die Kids ein Erfolgserlebnis. Aber wir sind auch kein Bastel-Workshop. Sie lernen hier, erwerben Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten: mit der Nähmaschine umzugehen, den Laden zu gestalten, Produktfotografie und -präsentation, Bildbearbeitung, Promotion, Marketing, Layout. Damit bereiten wir sie auf einen Beruf vor.«

Ari gehört zu den Fortgeschrittenen der Gruppe und hat schon selbstständig ein Kleid entworfen und genäht. Bevor es zu einem Designerstück wurde, hat es der Schauspielerin Barbara Auer gehört. Wenn Ari gestikuliert, sieht man, dass die Nägel der einen Hand rosa lackiert, die der anderen naturbelassen sind. Halb und halb, auch dies ein Design: »Wenn Sie über mich schreiben, dann schreiben Sie nicht Ari: er, sondern Ari: sie. Ich fühle mich als Frau und stehe dazu.« Auch die anderen legen großen Wert auf einen eigenen ausdrucksstarken Style: Beutel beispielsweise trägt sein kurzes Haar kupferrot und ist gepierct, Yvi hat sich mit Nieten bewehrt. Sie sind Punks, und eines ihrer wichtigsten Gesprächsthemen ist, dass sie »Nazis hassen«. »Aber von uns aus keine Gewalt«, beteuert Beutel, »erst mal reden.« Nazis treffen sie scheinbar überall, wenn sie in der Stadt unterwegs sind, und sie sind viel in der Stadt unterwegs. Denn obwohl sie jetzt nachts ein Dach überm Kopf haben, erzählen sie mir, sei die Straße ihr Lebensmittelpunkt geblieben. Als ich sage, dass man ihnen das nicht ansieht, handele ich mir einen Lacher ein: Wer in Berlin als Straßenkind Hunger leide oder ungewaschen herumlaufe, sei selbst daran schuld. In Berlin gäbe es reichlich Möglichkeiten zu essen, sich zu duschen und einzukleiden. Sie kennen jede einzelne.

Das Modelabel »Sophisticated People« ist ein Projekt der KARUNA Straßenkinderakademie. Unterstützt wird KARUNA (Mitgefühl) unter anderem vom Senat, von Terre des Hommes und Children for a better World, geleitet wird die niedrigschwellige Einrichtung für Kinder und Jugendliche in Not von Anni Dane. Die fröhliche 27-Jährige hat in Göttingen Sozialwissenschaften studiert, mit den Schwerpunkten Soziologie und Pädagogik.

Auch bei KARUNA kann man duschen, Wäsche waschen und essen. Ein eigener Koch sorgt für gesundes Frühstück und Mittagessen. Man kann sich beraten lassen und hier seine Postadresse einrichten. Trotzdem, so Anni Dane, bleibe das Leben auf der Straße hart genug, sie möchte nicht mit ihren Klienten, wie sie sie nennt, tauschen. Auch sie spricht vom Respekt, den sie ihr abringen: »Sie bringen auch uns etwas bei. Nämlich, wie stark man durchs Leben gehen kann.« Anni Dane legt mir eine Pressevereinbarung vor, die ich unterschreiben soll. Darin steht neben etlichen anderen Punkten, dass ich mich verpflichte, nicht herabwürdigend über die Mädchen und Jungen, die ich bei KARUNA kennenlerne, zu schreiben, und ihnen keine Drogen zu überlassen. Denn Drogen spielen hier natürlich eine Rolle.

Anni Dane, die von sich sagt, dass sie sehr gut zuhören kann, hat viel gehört. Von Eltern, die sich nicht kümmern, von Stiefvätern und Stiefmüttern, von krassen Vertrauensbrüchen, von Vernachlässigung, von Bildungsferne. Von all dem, was dazu führt, dass Kinder mit ihren Eltern brechen. Sie hat von Heimen, Pflegefamilien und Wohngruppen gehört, »die meisten unserer Klienten«, sagt sie, »haben Jugendhilfeerfahrung, die allerdings mit dem 18. Lebensjahr endet. Denn mit 18 kümmert sich das Jugendamt nicht mehr. Es folgt jahrelanges Scheitern. Wenn sie auf der Straße schnorren und negative Reaktionen bekommen, setzt sich dieses Scheitern fort. Das wollen wir ändern.« Neben der Beratung habe KARUNA bisher verschiedene Werkstätten betrieben, nun habe man das Modelabel gegründet, und die Idee sei fast genial: Die Nähe der Modebranche zur Subkultur spreche die Jugendlichen an, die Arbeit strukturiere ihren Tag, und das positive Feedback vermittele ihnen Selbstbewusstsein. »Hier bei uns sind sie keine Straßenkinder und Schnorrer, sondern Modeschöpfer«, glaubt Anni Hübner, »das Label hat Kultpotenzial.«

Heute haben wir zwei Hasen verkauft«, teilt Alexandra Matthes ihrem Team mit. »Oha, zwei«, lästert Marcel, worauf ihn Ari, Yvi, Neo, Beutel und Liza komisch angucken. »Marcel, den darf man nicht ernst nehmen«, erklären sie reflexartig. Diesmal wollen sie Alexandra Matthes beispringen, denn sie finden »Alex« okay. »Alex« ist nicht nur hübsch, nett und hilfsbereit, sie hat auch, so scheint es ihnen, ein ausgesprochen schillerndes Leben. Die gebürtige Bayerin hat an der Berliner Lette-Schule Design studiert, danach, aus Liebe zur Musik und Sehnsucht nach der Musikszene, bei MTV Moderatoren koordiniert. Sie lernte viele berühmte Leute kennen, auch AnNa R., die Sängerin von »Rosenstolz«. Für AnNA R. hat sie Bühnenkostüme entworfen und geschneidert, sie auf Tournee als Kostümbildnerin und Garderobiere begleitet. Jetzt hat Alex nicht nur das Konzept für »Sophisticated People« entwickelt, sie betreibt auch noch ein eigenes kleines Modelabel, das sie nach ihren Großeltern »Lore & Sepp« benannt hat, und arbeitet außerdem noch für ein Schmucklabel. Eine moderne Patchwork-Erwerbsbiografie. Alexandra Matthes drückt es so aus: »Ich habe mir mein Leben so gebaut, dass es richtig Spaß macht.«

Ein Leben, das Spaß macht, wollen die jungen Modeschöpfer inzwischen auch. Einige von ihnen haben Pläne. Ari, die nur einen Hauptschulabschluss hat, will die Mittlere Reife machen, anschließend ein Fachabitur. Beutel, der gar keinen Schulabschluss vorweisen kann, sucht eine Ausbildungsstelle zum Zweiradmechaniker oder wünscht sie sich zumindest. Yvi will auf einem Sport- und Turnierhof anfangen, mit etwas Glück kommt auch Neo, der die Ausbildung zum Koch abgebrochen hat, erst einmal dort unter, bevor sie sich beide selbstständig machen. Nur Träume? Träume sind mehr, als sie in den letzten Jahren besaßen. Nur Liza hat noch keine Idee, was sie einmal machen möchte. »Erstmal«, sagt sie, »muss ich meine Depression los werden, an der ich seit sieben Jahren leide.« Liza ist 19.

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